Verlassen
, [
1265-1266] verb. irreg. act. (
S. Lassen,) welches in einer doppelten Hauptbedeutung
üblich ist. 1. Hinter sich lassen, zurück lassen, daß ver vornehmlich eine
intensive Kraft hat, indem das einfache lassen ehedem häufig in diesem
Verstande gebraucht wurde, und zum Theil noch gebraucht wird. (1) Eigentlich,
wo es nur noch in einigen einzelnen Fällen gebraucht wird. a) Man verlässet
etwas, wenn man es bey seinem Tode auf der Welt zurück läßt, wofür doch
hinterlassen edler und üblicher ist. Er verließ drey Söhne und vier Töchter. Er
hat kaum so viel verlassen, daß er begraben werden konnte. Ein großes Vermögen
verlassen. Einen guten Nahmen, zwey Häuser u. s. f. verlassen. (
S. auch Verlassenschaft.) b) Das Eigenthum eines Dinges
für Geld abtreten, nur noch hin und wieder im gemeinen Leben, für die üblichern
ablassen und überlassen. Einen etwas verlassen. Das ist nicht zu verlassen,
abzulassen. Im Nieders. bedeutet es auch, den Besitz eines unbeweglichen Gutes
bestätigen. c) Als Abrede, als einen Befehl zurück lassen. Wir haben es so
verlassen, bey unserm Abschiede verabredet. Du weißt, wie wirs mit deinem Vater
verlassen haben, Tob. 11, 2. Ich habe es zu Hause verlassen, befohlen.
S. der Verlaß. (2) In weiterer Bedeutung, seine
körperliche Gegenwart einem Dinge entziehen, als ein allgemeiner Ausdruck, der
die nähere Art und Weise unbestimmt läßt. a) Eigentlich. Man verläßt einen Ort,
wenn man sich von demselben entfernt, es geschehe nun auf kurze Zeit, oder auf
immer. Wir verließen Berlin gestern Morgen um acht Uhr, reiseten von Berlin ab.
Am Abend, wenn die Sonne den Horizont verläßt. Man verläßt eine Person, wenn
man von ihr weggehet, sich von ihr dem Orte nach entfernet. Er verließ uns sehr
unwillig, ging voller Unwillen weg, aber auch, er ging von uns weg, da wir sehr
unwillig waren; welche Zweydeutigkeit in allen ähnlichen Ausdrücken herrscht,
z. B. ich verließ sie weinend. Ein Haus verlassen, so wohl aus demselben
weggehen, als auch aus demselben ausziehen. Die Welt verlassen, sterben. Da
verließ ihn (Jesum) der Teufel Matth. 4, 11. Jesus verließ die Stadt Nazareth,
V. 13. b) Figürlich in verschiedenen engern Bedeutungen, und mit allerley
Nebenbegriffen. (aa) Einem Dinge seine Gemeinschaft, seinen Einfluß entziehen,
auch als ein allgemeines Wort, daher es in manchen Fällen auch hier wieder
besondere Nebenbegriffe bekommt. Ein Mann wird seinen Vater und Mutter
verlassen, 1 Mos. 2, 24. Eine Geliebte verlassen, ihr die ihr gewidmete Liebe
und Treue entziehen. Ein entlaufener Mann verläßt seine Frau. Der Hirt verläßt
die Herde, wenn er ihr mit seiner Gegenwart zugleich die schuldige Aufsicht
entziehet. Das Gesicht verläßt uns, wenn wir schwache Augen bekommen. Das
Fieber hat ihn verlassen. Den Feldbau verlassen, und sich der Handlung widmen.
Dahin denn auch die biblischen Ausdrücke gehören, Gott verlassen, Gottes
Geboth, die Wahrheit verlassen, den Rath der Ältesten verlassen, die Furcht des
Herrn, die heidnische Weise u. s. f. verlassen, von welchen manche auch außer
der biblischen Schreibart üblich sind. Den Weg der Tugend verlassen. (bb) Mit
Entziehung der persönlichen Gegenwart auch den Besitz eines Dinges aufgeben.
Die Landleute haben ihre Güter verlassen. Ein verlassenes Haus. Die Fischer
verließen ihre Netze, Matth. 4, 20. Haus und Hof verlassen und davon gehen.
(cc) Hülflos lassen, einem Dinge seine Hülfe, seinen Beystand entziehen. Von
Gott verlassen seyn. Der Herr verläßt seine Heiligen nicht, Ps. 37, 28.
Jemanden im Alter, in einer Krankheit verlassen. Eine verlassene Weise. Man
soll dich nicht mehr die Verlassene heissen, Es. 62, 4. Von aller Hülfe
verlassen seyn. Der Verstand führt uns fehl und verläßt uns zu eben der Zeit,
wo wir seines Lichtes am meisten bedürfen, Gell. 2. Sich auf etwas verlassen,
als ein Reciprocum, Hülfe, Beystand mit Zuversicht von demselben erwarten. Sich
auf Gott [
1267-1268] auf seinen Reichthum, auf seine
Macht, auf seine Gelehrsamkeit u. s. f. verlassen. Ich verlasse mich in diesem
Stücke auf dich. Er verläßt sich auf das Lügen. Man kann sich nicht auf ihn
verlassen. Ich verlasse mich auf niemanden. Sich auf sein Recht verlassen. In
weiterer Bedeutung ist, sich auf etwas verlassen, mit Zuversicht Wahrheit von
demselben erwarten. Sich auf Träume verlassen, zuversichtlich hoffen, daß sie
in Erfüllung gehen werden. Man kann sich auf ihn, auf sein Wort, auf sein
Versprechen nicht verlassen; im gemeinen Leben auch, es ist sich nicht darauf
zu verlassen. ich verlasse mich darauf, hoffe zuversichtlich, daß es gewiß
geschehen werde. Im Oberdeutschen ist daher verlässig und verläßlich, worauf
man sich verlassen kann.
S. Zuverlässig. Die Hauptwörter des Verlassen und die
Verlassung werden nur in den weitern Bedeutungen des Activi gebraucht. Die
bösliche Verlassung seines Ehegatten. Anm. Dieses alte Zeitwort lautet schon
bey dem Kero, Ottfried u. s. f. farlazzan, firlazzan, bey dem Ulphilas
fraletan, im Schwed. färlata, im Nieders. verlaten. Ehedem bedeutete es auch
theils zerlassen, d. i. schmelzen, theils erlauben, permittere, theils auch
erlassen. In der zweyten Hauptbedeutung scheint es eigentlich sich auf etwas
steifen oder stützen, bedeutet zu haben, so daß ver auch hier eine Intension
bezeichnet. Wenigstens gebraucht Opitz das einfache lassen noch mehrmahls in
diesem Verstande.
Gott schützet mich, auf den ich mich darf lassen.
Indessen stehet es dahin, ob verlassen in dieser Bedeutung
nicht vielmehr von lassen, scheinen, ehedem auch sehen abstammet, indem man im
ähnlichen Verstande sagt, sich eines Dinges versehen. Das Schwed. förlita, sich
auf etwas verlassen, stammt gleichfalls von lita, sehen ab.
[
1267-1268]