Versehen
, [
1133-1134] verb. irreg. et recipr. (
S. Sehen,) welches nach Maßgebung der Partikel ver, und
des einfachen Zeitwortes, in verschiedenen Bedeutungen üblich ist. 1. Fehl
sehen, falsch sehen, welcher allgemeine Begriff sich wieder in verschiedene
Unterarten theilet. (1) Aus Mangel der Aufmerksamkeit etwas nicht sehen, was
man doch sehen sollte und wollte, für übersehen; eine Bedeutung, welches
sparsamer vorkommt, als die übrigen. Eine Gelegenheit versehen.
Heut, heut ist hohe Zeit! Wer sich erst durch Langsamkeit Auf
den Morgen denkt zu fristen, Wird sein Glück und Heil versehen, Gryph.
Noch ungewöhnlicher ist es im figürlichen Verstande, für
übersehen, mit Fleiß nicht sehen, nicht ahnden, ertragen. Du verstehest der
Menschen Sünde, daß sie sich bessern sollen, Weish. 1, 24. (2) Falsch sehen,
fehl sehen, ein Ding für das andere sehen, doch nur im weitern und figürlichen
Verstande, aus Mangel der Aufmerksamkeit etwas thun, was man nicht thun wollte,
oder nicht thun sollte, aus Unachtsamkeit wider seine Absicht, oder auch wider
eine Vorschrift handeln, wo es von weiterm Umfange der Bedeutung ist, als
vergehen in ähnlichem Verstande, welches sich mehr auf eine sittliche
Vorschrift beziehet. Versehen ist auch verspielt. Man gebraucht es hier auf
gedoppelte Art. (a) Absolute und als ein Reciprocum, sich versehen. Ich habe
mich versehen, ich habe aus Übereilung etwas gethan, was ich nicht thun wollte.
Der Kramer versiehet sich, wenn er aus Unachtsamkeit eine Waare für die andere,
nicht das gehörige Gewicht u. s. f. gibt. (b) Als ein eigentliches Activum und
mit der vierten Endung der Sache, oder doch mit dem Wörtchen es. Habe ich etwas
versehen? So viel ich weiß, habe ich nichts versehen. Du hast etwas Wichtiges,
etwas Großes versehen. Etwas in seinem Amte versehen. Er hat es bey ihm
versehen, er hat sich aus Unachtsamkeit um seine Gunst gebracht. Du hattest es
darin versehen, daß u. s. f. Mit der vierten Endung der Hauptwörter wird es
nicht verbunden. Sehr häufig wird auch der Infinitiv als ein Hauptwort
gebraucht, welches denn auch den Plural leidet. Das Versehen, eine aus
Unachtsamkeit wider seine Absicht oder wider die Vorschrift begangene Handlung.
Es ist nur ein Versehen. Ein Versehen begehen. Aus Versehen sündigen. Ein
Versehen ist leicht zu vergeben. (3) Sich an etwas versehen, durch den Anblick
einer Sache einen gewöhnlichen Eindruck bekommen, doch nur in engerer
Bedeutung, von schwangeren Personen, wenn der unvermuthete Anblick eines Dinges
einen ungewöhnlichen bleibenden Eindruck auf die Frucht macht. 2. Für versehen
oder eigentlich für sehen, und zwar wiederum in verschiedenen figürlichen
Fällen. (1) Jemanden mit etwas versehen, ihm dasselbe als ein Mittel zur
Erreichung einer Absicht oder doch als ein Bedürfniß darreichen, ohne die
nähere Art und Weise zu bestimmen; Lat. providere, wie versorgen. Mit Wein habe
ich ihn versehen, 1 Mos. 27, 37. Jemanden mit Geld, mit Truppen, mit
Lebensmitteln versehen. Der Kaufmann versiehet sich mit Waare, wenn er selbige
anschaffet. Er versiehet andere mit einer Waare, wenn er ihnen selbige
verkauft. Ich bin nicht damit versehen, ich habe es nicht. Die Ameise versiehet
sich auf den Winter mit Speise. Sich mit Lebensmitteln versehen. Mit Tugend,
mit Schönheit u. s. f. versehen seyn, sind veraltet. (2) Ein Amt versehen,
verwalten. Jemandes Stelle versehen, vertreten, verwalten. (3) Verordnen, doch
nur noch in wenig Fällen. Es ist in den Rechten so versehen, verordnet. 3. Für
ersehen oder ausersehen, d. i. bestimmen. Ein Land, das ich ihnen versehen
hatte, Ezech. 20, 6. Welche er zuvor, versehen hat, die hat er auch verordnet,
Röm. 8, 29. Gott hat etwas bessers für uns zuvor versehen, Ebr. 11, 40. Zu
großen Dingen versehen seyn. Ich war nicht dazu versehen, glücklich zu seyn.
Ein armer Mann, versehn zum Graben, Wollt jetzt ein besser
Schicksal haben, Gell. Die Parcen haben uns den Untergang versehen, Günth.
Gewöhnlicher, haben uns zum Untergange versehen. Indessen
fängt es doch in dieser ganzen Bedeutung an, sparsamer gebraucht zu werden. 4.
Vorher sehen, doch auch nur in zwey figürlichen Bedeutungen, als den Wirkungen
des Vorhersehens. (1) Vermuthen, hoffen, erwarten, als ein Reciprocum, da denn
die Person, von welcher man etwas hoffet oder erwartet, vermittelst der
Vorwörter zu und von ausgedruckt wird. Es wird hier auf doppelte Art gebraucht.
(a) Entweder mit der vierten Endung der eigenen Person, da denn die Sache
entweder in der zweyten Endung steht, oder auch umschrieben wird. Ich versehe
mich daß zu euch allen, 2 Cor. 2, 3. Kap. 7, 16; hoffe es von euch, verspreche
es mir von euch. Ich versehe mich zu euch, ihr werdet nicht anders gesinnet
seyn, Gal. 5, 10. Wir versehen uns zu euch, daß ihr thut, u. s. f. 2 Thess. 3,
4. Wir versehen uns bessers (eines bessern) zu euch, Ebr. 6, 9. Du hattest dich
meiner wohl versehen, hattest mich wohl nicht erwartet, vermuthet. Sie dürfen
sich freylich keiner guten Aufnahme bey ihm versehen. Keiner Untreu er sich
versah, Theuerd. Kap. 23. Ich hätte mich dieser Ehre am wenigsten versehen. Er
hätte sich eher des Todes versehen, als meiner Ankunft. (b) Mit der dritten
Endung der eignen Person, und der vierten der Sache, oder statt deren mit dem
Wörtchen es. Das hätte ich mir von ihm nicht versehen, hätte ich von ihm nicht
erwartet, vermuthet, gehoffet. Ich versehe mir nichts Gutes zu oder von ihm.
Ich hätte mir ehe des Himmels Einfall versehen, als dich. Ehe ich es mir
versah, oder ehe ich mirs versah, ein gewöhnlicher Ausdruck, die unvermuthete
Ereignung einer Sache auszudrücken. Ehe du dirs versehen wirst, werden wir
kommen. Das Compliment versahe ich mir nicht. Ehe er sichs versieht, will ich
die albernen Bücher alle mit einander ins Feuer werfen, Weiße. Beyde
Wortfügungen sind im Hochdeutschen gleich gebräuchlich; nur ist es ein Fehler,
[
1135-1136] wenn von einigen in der letztern auch die
eigene Person in der vierten Endung gesetzt wird.
Doch, eh' ich michs (mirs) versah, War er dem Band und mir
entgangen, Gell.
Indem zwey Accusativi dieser Art wider die Analogie der
Deutschen Sprache sind.
S. auch Unversehens. (2) * Sein Vertrauen auf etwas
setzen, als ein Reciprocum, wo der Gegenstand des Vertrauens bald vermittelst
der zweyten Endung, bald aber auch vermittelst der Vorwörter zu und in,
ausgedruckt wurde. Firsah er sih in Got, er vertrauete Gott, Ottfr. Firsahun
sih zi sineru ginadu, eben ders. Salig die sih ze imo firsehent, Notker.
Ich habe steif des Herren mich versehen, Auf ihn gehoffet mit
Begier, Opitz.
Doch im Hochdeutschen ist diese Bedeutung längst veraltet.
Anm. Im Schwed. in den meisten der vorigen Bedeutungen förse. Das Hauptwort,
das Versehen, wird außer der ersten Bedeutung wenig gebraucht. Versehung kommt
noch zuweilen in der zweyten Bedeutung vor. Die Versehung eines Amtes, einer
Stelle. [
1135-1136]