Sehen
, [
23-24] verb. irreg. ich sehe, du
siehest (siehst), er siehet; (sieht) Imperf. ich sahe, Conj. sähe; Mittelw.
gesehen; Imperat. siehe (sieh). Es ist in doppelter Gestalt üblich. I. Als ein
Neutrum mit dem Hülfsworte haben. 1. Eine gewisse Gestalt haben, welche durch
ein Beywort ausgedruckt wird. Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer sehen,
Matth. 6, 16; eine sauere Gesichtsbildung annehmen. Warum siehest du so scheel?
Matth. 20, 10. Die Jungfrauen sehen jämmerlich, Kap. 1, 4.
So sauer auch die liebe Mutter sah, Gell.
Blaß sehen. Er siehet wie Wein. Die Farbe sieht grünlich. Sie
sehen ja ganz verdrüslich, Gell. Jetzt sehen sie so sein rothbäckig, wie ein
Borstorfer Äpfelchen, Weiße.
Man mag gleich stumm und hirnlos seyn. Man seh nur schön, so
nimmt man ein, Gell.
Es ist in dieser Bedeutung nur im gemeinen Leben und in der
vertraulichen Sprechart üblich, besonders in Meißen, obgleich auch dafür
aussehen üblich ist. Nur in den R. A. ähnlich sehen, gleich sehen ist es
überall gebräuchlich. Er siehet dir sehr ähnlich. Der Tomback sieht dem Golde
gleich. 2. Eine gewisse Richtung haben; eine Bedeutung, welche im Oberdeutschen
üblicher ist, als im Hochdeutschen. Die Spitzen der Berge sahen am siebenten
Tage hervor. 1 Mos. 4, 5. Die Fenster sehen auf die Gasse. Das Land siehet
gegen Morgen. II. Als ein Activum, ob es gleich auch hier oft absolute und in
Gestalt eines Neutrius siehet, vermittelst des Auges empfinden, sich das Bild
einer Sache vermittelst der Stahlen, die ans derselben in das Auge fallen,
vorstellen. 1. Eigentlich. So wohl absolute und in Gestalt eines Neutrius. Ich
sehe nicht. Vor dem Nebel kann man nicht sehen. Er siehet nicht gut, hat ein
blödes Gesicht. Wenn ich anders recht sehe. Meine Augen sehen nicht so weit.
Nicht aus den Augen sehen können. Nun sehen sie aus andern Augen, fig. nun
haben sie eine ganz andere Gestalt. Durch ein Glas, durch die Brille sehen.
Durch die Finger sehen, figürlich, eine Sache mit Wissen ungeahndet lassen. Von
der Seite sehen. Als auch in mehr thätiger Gestalt, mit der vierten Endung. Ich
sehe nichts. Du sahest alles. Vier Augen sehen mehr als zwey. Von allen gesehen
werden. Ich sehe es mit meinen Augen, vor meinen Augen, eine nachdrückliche Art
zu reden. Sich an etwas nicht satt sehen können. Ja, wie sie sehen. Es ist was
Neues zu sehen. Es gibt hier was zu sehen. Ich will den sehen, der etwas daran
zu tadeln findet, d. i. es wird gewiß niemand etwas daran zu tadeln finden.
Seine Freude, seine Lust an etwas sehen, eine besondere R. A. es mit
Wohlgefallen ansehen; seinen Jammer an etwas sehen, es mit Jammer ansehen.
Ingleichen mit allerley Vorwörtern. Auf etwas sehen, die Augen auf etwas
richten. Jedermann sahe auf ihn. Ich habe nicht darauf gesehen. Jemanden auf
die Finger sehen, seine Handlungen genau beobachten. Eine andere figürliche
Bedeutung mit dem Vorwort auf kommt im folgenden vor. Jemanden in das Gesicht
sehen. Man kann nicht allen Leuten in das Herz sehen. Jemanden in die Karte
sehen. Einen in die Hände sehen müssen, figürlich, seinen Unterhalt sparsam von
ihm haben.
Geschwind, wie müssen ganz in dieß Geheimniß sehen, Weiße.
es zu ergründen suchen. Nach etwas sehen, auch figürlich
sehen, ob es nicht etwa Schaden leide. Nach dem Essen, nach dem Kranken sehen.
Sehr häufig wird sehen lassen, für zeigen, und sich sehen lassen, für zum
Vorschein kommen, erscheinen, sichtbar seyn, gebraucht. Etwas für das Geld
sehen lassen. Jemanden seine Schätze sehen lassen.
Laß sehn, spricht Galathee, obs auch die meine sey, Gellert.
Es läßt sich ein Komet, ein Irrlicht, ein Gespenst sehen. Die
Frau hat sich nach ihrem Tode sehen lassen, ist erschienen. In diesem
Selbstbetruge wird sie ihnen (besser sie) ihr ganzes Herz sehen lassen, Gell.
Da kann ich ihnen (sie) die Geschicklichkeit meiner Frau sehen lassen, eben
ders. Laß mich es sehen, nicht mir. Sich den ganzen Tag nicht sehen lassen,
nicht unter die Leute kommen. Er darf sich nicht sehen lassen. Der Imperativ
siehe wird in der Deutsche Bibel häufig gebraucht, Aufmerksamkeit zu erregen.
In diesem Verstande ist er veraltet; aber man gebraucht ihn noch häufig, theils
seine eigene Verwunderung auszudrücken, theils solche bey andern zu erwecken,
da man ihm denn in der zweyten einfachen Person allemahl ein da zugesellet;
siehe da! Ich stand und wartete, und siehe da! er kam nicht. Siehe da, wie übel
du gethan hast. In den übrigen imperativen Formen fällt dieses da weg. Man sehe
doch, wie sich die Männer so geschwinde ändern können. Seht doch! gleich den
Stuhl vor die Thüre gesetzt! Gell. Das Mittelwort sehend kommt so wohl in
adverbischer als adjectivischer Gestalt vor, ist aber mehr der vertraulichen
und gemeinen Sprechart eigen, als der höhern. Wieder sehend werden, sein
Gesicht wieder bekommen. Die Blinden sehend machen, in der Deutschen Bibel.
Saul war drey Tage nicht sehend, Apost. 9, 9. Sehende Augen, häufig in der
Deutschen Bibel. Mit sehenden Augen blind seyn. Geschenke machen die sehenden
blind, 2 Mos 23, 8. Wenn sehen ein Zeitwort ohne daß bey sich hat, so stehet
dieses Zeitwort im Infinitiv ohne zu; eine Wortfügung, welche auch bey den
Zeitwörtern dürfen, heißen, helfen, hören, lassen, können, lehren, lernen,
müssen u. s. f. Statt findet. Ich sahe ihn kommen. Einen Mann von Kenntniß und
Geschmack siehet man wohl lächeln, hört ihn aber niemahls lachen. Ich sehe dich
leiden, weinen, deine Hände ringen, höre deine Klagen, deine Seufzer alle,
Dusch. Da denn in den zusammen gesetzten Zeiten auch sehen sein Augment
verlieret. Man hatte mich herum schleichen sehen, Weiße; nicht gesehen. Ich
habe ihn in großer Eil' aus dem Hause laufen sehen, Gell. Nur muß man
diejenigen Fälle zu vermeiden suchen, wo das andere Zeitwort so wohl einer
thätigen als lebenden Bedeutung fähig ist, weil alsdann die Zweydeutigkeit
nicht zu vermeiden ist; z. B. ich sahe ihn prügeln, ich habe ihn taufen sehen.
Ganz wider diese Regel heißt es bey dem Opitz:
So daß man diesen Tod sieht offenbar zu seyn. Zugleich bey
Freund und Feind;
d. i. daß er Freunden und Feinden bekannt ist. Und an einem
andern Orte:
Lehrer, die man doch gesehn entblößt zu seyn Von irgend einer
Macht.
[
25-26] Zu geschweigen, daß das
Zeitwort seyn mit sehen nicht im Infinitiv verbunden werden kann. 2. Figürlich,
von verschiedenen Wirkungen der Seele, welche durch den Sinn des Gesichts
veranlaßt werden, und mit demselben verbunden sind. (1) Unmittelbar empfinden,
durch die Sinne erfahren, doch immer zunächst von der Erfahrung oder Empfindung
durch den Sinn des Gesichts. Man muß sehen und auch nicht sehen. Ich sehe wohl,
daß er mich nur hintergehen will. Ich muß sehen, daß man mich verachtet. Die
Gefahr vor Augen sehen. Wie sie sehen, der Handel ist geschlossen. Ich will die
Sache geendiget sehen. Er möchte gern jedermann glücklich sehen. Soll ich dich
in kurzen an dem Nöthigen Mangel leiden sehen? Etwas gern sehen, herrschende
Lust oder Vergnügen daran empfinden. Du wirst hier nicht gern gesehen. Wir
sehen täglich, daß Personen sich aus Dingen ein Vergnügen machen, worin alle
übrige keines finden. Ich will doch sehen, wie es ablaufen wird. Ich will nur
gern sehen, was daraus werden wird. Wenn ich sehe, daß mein Bitten sein Herz
nicht rühret. Wer rühmlich handelt, weil er keinen Bessern über sich sehen
will, der ist aus der bösesten Neigung, aus Neid, gut, Gell. Wer einsam lebt,
hat wenig Gelegenheit das zu sehen, was unter der menschlichen Gesellschaft
vorgehet. Wenn dieses Wort in der Deutschen Bibel von Gott gebraucht wird, so
bedeutet es, aus unmittelbarer Vorstellung auf anschauende Weise erkennen. (2)
Schließen, urtheilen. Hieraus sehe ich, daß u. s. f. Ich sehe es dir an den
Augen an. Man siehets an seinen Kleidern, daß er wenig Geschmack besitzet. Ich
sehe nicht, wozu das soll. Er lachte, aber man sahe, daß dieß Lachen nicht aus
dem Herzen kam. Ich sehe nur allzuwohl, was dieses zu bedeuten hat.
So weit sah keiner noch, als der gesehen hat, Gell.
(3) Versuchen, einen Versuch machen. Wir müssen sehen, wie
wir ihn dazu bewegen. Ich will sehen, ob ich etwas ausrichten kann. Sehen sie,
daß sie ihn hierher bringen.
Laß sehn, wer unter uns am weitsten werfen kann, Kost.
Ich will sehen, ob ich nur noch einige Tage Aufschub erhalten
kann, Weiße. (4) Sorge, Fleiß, Mühe anwenden. Wir müssen sehen, daß wir Geld
bekommen. Er mag sehen, wie er zurecht kommt, er mag dafür sorgen. Wir wollen
sehen, wie wir mit ihr aus einander kommen, Gell. Besonders Vorworte auf, auf
etwas sehen, Sorge dafür tragen, es zu erhalten, zu bekommen. Nur auf seinen
Nutzen sehen. Er stehet nicht auf das Geld. Wir müssen doch ein wenig auf das
Äußerliche sehen. Bey einer guten Erziehung muß vornehmlich darauf gesehen
werden, daß junge Leute mit Geschmack und Empfindung lesen lernen, Gell.
Ingleichen in Betrachtung ziehen. Sehen sie nicht auf den Werth des Geschenkes,
sondern auf mein Herz. So auch das Sehen. Siehe auch das Gesicht. Anm. Schon im
Isidor, bey dem Kero u. s. f. seh an, bey dem Ulphilas mit einem starken
Hauche, der Gaumenlaut übergehet, saighan, im Niederdeutschen ohne Hauchlaut
seen, im Engl. to see, im Angels. seon, im Schwed. se, im Isländ. sia, im
Äolischen hier nichtlateinischer Text, siehe Image, wofür andere
Griechische Mundarten hier nichtlateinischer Text, siehe Image
sagen, im Hebr. hier nichtlateinischer Text, siehe Image,
hier nichtlateinischer Text, siehe Image, hier
nichtlateinischer Text, siehe Image. Die neutrale Bedeutung, gesehen
werden, eine gewisse Gestalt haben, ist ohne Zweifel die erste und älteste, und
da dieses eine Wirkung des Lichtes ist, so erhellet daraus die Verwandtschaft
dieses Wortes mit Schein, Hebr. hier nichtlateinischer Text, siehe
Image, zumahl da in allen alten morgenländischen Sprachen hier
nichtlateinischer Text, siehe Image, [
25-26]
glänzen bedeutet. Das mehr Oberdeutsche schauen, ist bloß ein Intensivum von
sehen, so wie suchen, sehnen und zielen, Intensiva in andern Bedeutungen,
zeigen aber, Engl. to shew, das Factitivum davon ist. Aus der irregulären Form
dieses Zeitwortes erhellet, daß es aus mehrern Mundarten zusammen gesetzet ist,
wovon sich in den Provinzen noch häufige Spuren finden. Im Österreichischen
gehet das Präsens: ich siech, du siechst, er siecht; Imperat. sich; in andern
Oberdeutschen Gegenden, ich siehe, du siehest u. s. f. In noch andern Gegenden
gehet es regulär, ich sehe, du sehest, er sehet ec. Imperf. ich sehete,
Imperat. sehe. Der Imperat. lautet im Isidor see und seegi, im Tatian, wenn es
anders keine falsche Leseart ist, senu. Im Hochdeutschen ist das e in der
ersten Sylbe scharf, wie in gehen; die Schlesier und einige andere Mundarten
sprechen es wie ä, sehen. [
25-26]