Ganz
Ganz,
[
407-408] adj. et adv. welches,
überhaupt genommen, denjenigen Zustand ausdruckt, wo alles Mannigfaltige,
welches wir uns an einem Dinge vorstellen können, zusammen genommen wird,
welches daher keines Comparativs oder Superlativs fähig ist. Es ist dreyerley
Gestalt üblich. I. Als ein Bey- und Nebenwort, denjenigen Zustand zu
bezeichnen, da ein Ding alle Theile unverletzt beysammen hat, welche vermöge
seines Begriffes oder seiner Bestimmung dazu erfordert werden. 1. Im strengsten
physischen Verstande. 1) Im Gegensatze dessen, was zerbrochen, zerrissen, oder
schadhaft ist. Das Glas fiel von dem Tische und blieb dennoch ganz. Ein ganzes
Fenster und ein zerbrochenes. Ein ganzes Ey. Das Siegel ist noch ganz. Er hat
keinen ganzen Rock am Leibe. Ein Buch ist nicht mehr ganz, wenn es zerrissen
ist, oder Blätter daran fehlen. Ein Berg ist im Forstwesen ganz in Haaren, wenn
das auf demselben befindliche ausgewachsene Holz noch unversehrt beysammen
steht. In eben diesem Verstande nennet Notker die Vorhaut Kanzlidi, und
Ottfried gebraucht ganz und ganzer für gesund, Ganzida, für Gesundheit und
Vnganzi für Krankheit, so wie das Nieders. heel so wohl ganz, als gesund
bedeutet. 2) Im Gegensatze dessen, was in mehrere Theile getheilt ist. Ganzes
Gewürz, ganzer Pfeffer, im Gegensatze des zerstoßenen. Ganzes Geld, hartes, im
Gegensatze des einzelnen. Ein ganzer Thaler, ein Species-Thaler. Die Jagdbauern
ganz machen, im Jagdwesen, sie in Reihe und Ordnung stellen. Ein ganzer Käse,
im Gegensatze eines halben, oder angeschnittenen. Die Bouteille ist nicht mehr
ganz, sie ist schon angebrochen. Eine ganze Zahl, im Gegensatze einer
gebrochenen, oder eines Bruches. 3) Figürlich, im gemeinen Leben, in seiner Art
vollkommen; doch nur als ein Beywort. Das ist ein ganzer Mann. Sie sind ein
ganzer Moralist. Das ist ein ganzes Pferd. Das waren ganze Leute. 2. In der
weitesten Bedeutung, das Beysammenseyn aller Theile zu bezeichnen, welche ein
Ding hat, oder haben kann, es sey nun ein körperliches, oder unkörperliches
Ding, ein Raum, eine Zeit u. s. f. 1) Eigentlich. Das ganze Haus durchsuchen.
Die ganze Gesellschaft brach auf. Das ganze Heer nahm die Flucht. Ein ganzes
Brot verzehren. Geben sie es mir ganz. Ganz Rom erschrak, alle in Rom
befindlichen Leute. Ganz Frankreich erstaunte. Wo es, wenn es vor eigenen
Nahmen ohne Artikel stehet, indeclinabel ist. Das ganze Glas austrinken, allen
in dem Glase befindlichen Wein. Ein ganzer Bauer, im Gegensatze eines halben.
In Thüringen heißen ganze Güter diejenigen, welche in einerley Lehen und Zinsen
gehören, und daher nicht vereinzelt werden dürfen, die Zahl ihrer Äcker mag
übrigens beschaffen seyn, wie sie will. Er trank es ganz aus. Den ganzen Tag
herum gehen. Von ganzem Herzen, von ganzer Seele. Siehest du nicht, daß seine
ganze Liebe nur auf die Schönheit des Leibes geht? Es sind Thränen der Wollust,
die meine ganze Seele vergnügen, Gell. Ganz druckt Beysammenseyn aller
wirklichen oder möglichen Theile eines Dinges aus, all aber nur die sämmtlichen
Individua einer Art. Das Gehör merkt es daher leicht, wenn beyde Wörter zur
Ungebühr mit einander verwechselt werden. Herodes ließ alle Kinder zu Bethlehem
tödten und an ihren ganzen Gränzen, Matth. 2, 16. für: an allen ihren Gränzen.
Ich wette zum voraus, um dieses ganze Geld, für: um alles dieses Geld. In
beyden Fällen sollen bloß die sämmtlichen Individua bezeichnet, nicht aber als
ein einziges Ding vorgestellet werden. 2) Figürlich. (a) Für völlig, das
Beysammenseyn aller Grade der innern Stärke zu bezeichnen. Es ist mein ganzer
Ernst. Sie haben meinen ganzen Beyfall. Ich fühle die ganze Verzweifelung, mit
der du kämpfest.
S. Gänzlich. (b) Mit dem Nebenbegriffe der Größe, dieses
Ganze als etwas Großes, als etwas Wichtiges vorzustellen. Es gibt ganze Völker,
welche an gewissen Vergnügungen durchaus keinen Geschmack finden. Sie hat in
der ganzen halben Stunde ihr Gesicht nicht Ein Mahl verändert, Gell. Ich merke,
daß noch ganze Jahre zu diesem Glücke nöthig sind, ebend.
Oft sahen wir uns nur zu ganzen Stunden an, ebend. Ihr
Jungfraun deckt mit immer grünen Zweigen Mit einem ganzen Lorbeerhain Den Weg;
Raml.
Wenn das Hauptwort, zu welchem ganz gehöret, ein Zahlwort bey
sich hat, so kann das Beywort so wohl vor als nach diesem stehen. Er ist ganze
vierzehen Tage, oder vierzehen ganze Tage ausgeblieben. Im gemeinen Leben
pflegt man alsdann für ganze gern ganzer zu sagen. Ich ging zwey ganzer Tage um
das Haus herum. Vier ganzer Tage, oder ganzer vier Tage. Die Frau zwo (zwey)
ganzer Stunden auf ihre Kleider warten zu lassen? Gell. II. Als ein Hauptwort
dasjenige Ding zu bezeichnen, welches erwächst, wenn man dessen sämmtliche
wirkliche oder mögliche Theile zusammen nimmt; wo denn dieses Hauptwort, wie
andere Hauptwörter dieser Art, wie ein Beywort abgeändert wird. Der menschliche
Körper ist ein aus unzählig vielen Theilen zusammen gesetztes Ganze (Ganzes),
Sulz. Die Einheit oder das Ganze setzt nothwendig die Vielheit der Theile
voraus, ebend. Viele Dinge machen alsdann ein Ganzes, wenn ein Subject da ist,
das aus dem gemeinschaftlichen Beytrage aller Theile entsteht, deren jeder zur
Bildung des Subjects das seinige thut, ebend. Sein Gemählde ist nicht schön, in
welchem die übel verbundenen Theile kein Ganzes machen. Im Ganzen, alle zu
einer Sache gehörigen Theile genommen, oder betrachtet. Unsre Lebensart ist, im
Ganzen genommen, besser, als mancher Milzsüchtiger sie beschreibet. Opitz
gebraucht dieses Hauptwort im weiblichen Geschlechte: diese große Ganze, was
wir Welt nennen. III. Als ein Nebenwort, wo es in den meisten Fällen eine
Fortsetzung der zweyten Hauptbedeutung des Beywortes ist. 1. Für völlig, eine
Sache nach allen Graden ihrer innern Stärke zu bezeichnen. Wenn du mich
verlassen willst, so solltest du mich doch nicht ganz verlassen. Dem Geschäfte,
das er erwählet, ganz zu leben, Gell. Überlassen sie sich doch nicht ganz ihren
Schmerzen. Ich bin ganz der Ihrige. Rechnen die ganz auf mein Herz. Sich dem
Studiren ganz ergeben. So ganz sollen wir sie verlieren, diese einzige Tochter?
Less. Der Feige, er hat nicht das Herz ganz ein Bösewicht zu seyn. Er ist nicht
ganz ohne Grund argwöhnisch. Ingleichen bey Nebenwörtern, ihre Bedeutung zu
verstärken und zu erhöhen. Ich war ganz allein. Die Sache ist mir ganz genau
bekannt. Das will ganz etwas anders, besser etwas ganz anders sagen. Ich habe
ganz ein ander Wildbret auf der Spur, Less. besser, ein ganz anderes. Ganz
[
409-410] gewiß. Es ist ganz gewiß. Sie hat es ihm ganz
gewiß mit Fleiß gesagt. Ganz verändert, ganz blind seyn. Ganz und gar nicht.
Laßt euch von des Priesters Hand ganz still zusammen geben, Gell. Sie haben
ganz Recht, daß sie sich darüber beklagen. Die Ohrgehenke stehen ihr ganz
vortrefflich wohl, Gell. Ich habe ihn ganz wohl gekannt. Zur Verstärkung einer
Vereinigung ist es, allein genommen, im Hochdeutschen ungewöhnlich, ob man es
gleich im Oberdeutschen auf diese Art gebraucht. Zur Sache ganz nicht gehörige
Ausflüchte.
Ist einer gar zu gach, so kömmt er ganz nicht ein, Opitz.
Unfallo der hatte ganz kein rast, Theuerd. Kap. 61. Ich weiß
ganz von keiner Angst und Qual, Opitz. Ein Hochdeutscher gebraucht in diesen
Fällen entweder ganz und gar oder auch gar allein. Hierher gehöret auch der
Gebrauch der Neuern, dieses Nebenwort in der edlen Schreibart mit Hauptwörtern
zu verbinden, den höchsten, oder doch einen hohen Grad des Prädicates zu
bezeichnen. Ich würde ganz Heiterkeit seyn, wenn nicht eine Betrachtung mich
mit Schmerz erfüllete. Er ist ganz Gluth, ganz liebenswerthe Flamme, ganz
Leben, Schleg.
Ein Schäfer aus der goldnen Zeit Ganz Ruhe, ganz
Zufriedenheit, Gell.
2. Für ziemlich, einen mittelmäßigen Grad der innern Stärke
zu bezeichnen, in der vertraulichen Sprechart. Er ist ein ganz feiner Mensch,
Gell. Er ist mir immer ganz artig vorgekommen. Das gefällt mir ganz wohl. Es
mag ein ganz hübsches Buch seyn. Sie soll ein ganz gutes Herz haben. Ich habe
mich ganz gut dabey befunden. Zuweilen verliert sich auch dieser Nachdruck, und
ganz wird zu einem bloßen Füllworte. Ich weiß nicht, es fängt mich ganz an zu
hungern. Ich erstaune ganz. Sie sind ja ganz bestürzt. Anm. Dieses Wort kommt
bey den ältesten Alemannischen Schriftstellern nur selten vor. Integro numero
heißt bey dem Kero alonges ruabo, und die ganze Woche anolkiu uuelicha. Wachter
leitet es von cunctus, Frisch aber von geendet her; allein, da Ottfried, bey
welchem es allem Anscheine nach zuerst vorkommt, es beständig für gesund
gebraucht, so scheinet es vielmehr zu genesen, bey dem Ulphilas ganisan, zu
gehören. In der Monseeischen Glosse wird kaneizzit uurtun durch conficiebantur
übersetzt.
S. Genesen. Die Niedersachsen gebrauchen statt dieses
Wortes heel, welches gleichfalls gesund, unbeschädigt bedeutet;
S. Heil. Das Dänische gandske und Schwed. ganska
scheinen von dem Hochdeutschen gänzlich entlehnet zu seyn.
[
409-410]