Vor
, [
1245-1246] eine Partikel, welchen in
gedoppelter Gestalt gefunden wird, und überhaupt eigentlich ein eher seyn
bezeichnet, und zwar so wohl dem Orte, als der Zeit nach. Sie ist, I. Eine
Präposition, welche so wohl die dritte, als die vierte Endung des Nennwortes
erfordert, jene mit dem Begriffe der Ruhe, diese mit dem Begriffe der Bewegung.
1. Mit der dritten Endung, wo sie überhaupt ein eher seyn bedeutet, als ein
anderes Ding, so wohl der Zeit, als dem Orte nach. (1) Der Zeit nach, eher als
ein anderes Ding, im Gegensatze des nach. Seines gleichen war vor ihm kein
König gewesen, 2 Kön. 23, 25. Vor Tage aufstehen. Von der Zeit kommen, vor der
bestimmten, gehörigen Zeit. Drey Tage vor der Hochzeit. Ich bin lange vor dir
da gewesen. Vor mir ist diese Ehre noch keinem widerfahren. Vor diesem,
zusammen gezogen vor dem, von dieser Zeit, ehedem. Diese Bedeutung ist sehr
bestimmt, und der Gebrauch des vor leidet in derselben keinen Zweifel, daher es
wider allen Gebrauch ist, wenn einige ältere Sprachlehrer das vor, wenn es von
der Zeit gebraucht wird, auch mit der vierten Endung verbinden, und zum
Beyspiele die R. A. anführen, vor den Bruder etwas bitten, d. i. eher, als der
Bruder, welches von vor dem Bruder, in dessen Gegenwart, unterscheiden sey.
Allein das Beyspiel ist nicht aus der Sprache selbst hergenommen, sondern
willkührlich gemacht. Im gemeinen Leben hört man zwar, vor ein Paar Jahren,
allein, in der anständigern Sprechart sagt man dafür lieber, vor einigen
Jahren. Im gemeinen Leben kommen einige Fälle vor, wo vor mit der zweyten
Endung verbunden zu seyn scheinet. Vor Alters, d. i. ehedem, vor Morgens, vor
Abends, vor Winters. Allein, da man auch sagt, vor Nachts, welches nicht der
Genitiv seyn kann, so stehet man wohl, daß die Hauptwörter hier vermittelst des
adverbischen s zu Nebenwörtern gemacht werden. Übrigens gehöret zu dieser
Bedeutung der Zeit auch das folgende Nebenwort vor. (2) Dem Orte nach, das
Verhältniß zu bezeichnen da ein Ding dem Orte nach eher ist, als ein anderes,
und zwar, wenn es im Stande der Ruhe ist, oder die Handlung in dem Raume vor
dem andern Dinge eingeschlossen bleibt. a. Eigentlich, wo es dem hinter
entgegen stehet. Vor dem Thore stehen, sitzen. Es lieget vor der Thür. Vor
einem stehen. Er fiel vor ihm nieder. Vor dem Tische sitzen. Der Krieg ist vor
der Thür, ist nahe. Das schwebet mir noch immer vor den Augen. Ihr Bild ist mir
noch immer vor den Augen. Wie ein Frühlingsnebel vor der Sonne verschwindet; wo
sich zugleich etwas von der folgenden Bedeutung der wirkenden Ursache mit
einschleicht. Vor jemanden her, hin, hinab, hinaus gehen. Traurig trieb er die
Schafe vor sich her. Vor dem Thore spazieren gehen, wenn man bereits außer dem
Thore ist; hingegen, vor das Thor gehen, deutet an, daß die Bewegung erst dahin
gerichtet wird. Einem vor Wind seyn, in der Seefahrt, eigentlich ihm vor dem
Winde seyn, den Vortheil des Windes haben, der Gegend, woher der Wind kommt,
näher seyn, als ein anderer. Vor der Hand, für jetzt. Lassen sie was vor der
Hand gut seyn. Hitzig vor der Stirn seyn. b. In weiterer und figürlicher
Bedeutung. aa. Eine Gegenwart zu bezeichnen. Er hat es vor meinen Augen gethan.
Vor Gott und der Welt strafbar seyn, nach dem Urtheile Gottes und der Welt. Das
ist vor Gott unrecht. Gott vor Augen haben, sich beständig an ihn erinnern.
Besonders, wenn das gegenwärtige Ding zugleich die wirkende und veranlassende
Ursache der Handlung ist. Vor jemanden aufstehen, aus Ehrerbiethung für ihn.
Den Hut vor ihm abnehmen. Schämest, scheuest du dich nicht vor mir? wirkt meine
Gegenwart keinen Scham, keine Scheu, bey dir? Ich schäme mich vor mir selbst.
Vor einem nicht bestehen können. Die Augen vor jemanden nicht aufheben. Sich
vor jemanden demüthigen. Vor einem verstummen. bb. Ein Bestreben, die Gegenwart
eines andern Dinges zu vermeiden, wo es mit allen den Zeitwörtern gebraucht
wird, welche ein fliehen, verbergen, bewahren, schützen u. s. f. bezeichnen.
Vor einem fliehen, davon laufen, entrinnen. Die Flucht vor jemanden ergreifen.
Vor einem andern weichen. Ich will mich nicht vor dir verbergen, Hiob 13, 20.
Sie ist verhohlen vor den Augen aller Lebendigen, Kap. 28, 21. Warum versteckst
du es vor mir? Einsam vor den Augen der Welt verborgen. Seine Ohren vor
jemanden verstopfen, sein Herz vor ihm verschließen. Du willst Geheimnisse vor
mir haben? Vor etwas bedeckt, sicher, gesichert seyn. Vor den kältenden
Nächten, sollen dich meine Umarmungen schützen, Weiße. Friede, Ruhe vor etwas
haben. Behüth' uns vor der Hölle. Behüth' uns, Herr, vor falscher Lehr. Vor
allen Sünden, vor allem Irsal, - behüth' uns, lieber Herre Gott, in der
Litaney. Sich vor der Kälte verwahren. Schutz vor dem Feinde, vor dem Winde
gewähren. Und so in tausend andern Fällen mehr. Diese Bedeutung gränzet sehr
nahe an den Gebrauch des für, wenn es den Gegenstand des Widerstandes
bezeichnet. Eine Arzeney für das Fieber, es zu vertreiben. cc. Besonders eine
Empfindung zu bezeichnen, welche zugleich mit einer Bemühung, sich von dem
empfundenen Gegenstande zu entfernen, verbunden ist, wo sich doch oft auch der
folgende Begriff der wirkenden Ursache mit einschleicht. Vor einer Sache
erschrecken, sich entsetzen. Schrecken, Entsetzen vor etwas empfinden. Fürchte
dich nicht vor mit. Einen Abscheu, einen Ekel vor etwas heben. Uns ekelt vor
dieser losen Speise. Jemanden einen Abscheu vor einer Sache beybringen. Vor
etwas zittern. Zittere vor deinem eigenen [
1247-1248]
Gewissen. Sie haben mich einer Gefahr ausgesetzt, vor der ich noch erzittere.
Aber, ich zittere für alle die, die so viel Härte blicken lassen, ist etwas
anders, indem für hier bloß den Gegenstand des Interesse bezeichnet. Der ganze
Rath erstaunt vor diesem schönen Kinde, Gell. Wo doch, wenn mit der Empfindung
das Bestreben der Entfernung nicht deutlich verbunden ist, über schicklicher
ist. Wenn aber bloß der Gegenstand der Richtung, der Empfindung, bezeichnet
wird, so stehet für mit der vierten Endung: für etwas sorgen, nicht vor. dd.
Eine wirkende Ursache, wie das Lat. prae, da denn das Nennwort seinen Artikel
verlieret. Es scheinet, daß es hier zunächst eine solche wirkende Ursache
bedeutet habe, von welcher man gehindert wird, auf entgegen gesetzte Art zu
handeln. In andern Rücksichten sind andere Vorwörter üblich. Vor Hunger
sterben, Hungers sterben. Vor Durst verschmachten. Vor großen Schrecken
zittern. Vor Zorn außer sich seyn. Sich vor großer Angst nicht zu lassen
wissen. Vor Freude weinen. Vor Verdruß mit den Zähnen knirschen. Vor vielen
Hindernissen nicht weiter können. Hier ist vor den vielen Räubern nicht sicher
zu reisen. Er kann vor Mattigkeit kaum mehr gehen. Vor Schmerzen nicht schlafen
können. Ich kann vor Betrübniß nicht reden. Vor Alter sterben. Vor vieler
Arbeit nicht zu sich selbst kommen. Vor großer Begierde blind seyn. Sich vor
Angst nicht zu lassen wissen. Vor langer Weile jähnen. O, wie sie vor Freuden
die Fittige schlägt! Weiße. Ich kann vor Verwunderung noch nicht zu mir kommen,
eben ders. Herzen, die vor Vergnügen klopften. Ich möchte vor Ärgerniß
vergehen, Gell. Kann ich doch vor Freuden kaum mehr reden, eben ders. Ja wohl
kann man vor Liebe krank werden, eben ders. Ob man gleich nicht sagt, vor
vieler Arbeit, vor vielem Sitzen krank werden, sondern von. Der Himmel hat mir
eine Wohlthat erwiesen, die mich vor Erkenntlichkeit zu Thränen bringt, eben
ders. Sich vor Lachen kaum fassen können. Schon Notker sagt: min ouga ist
troube fore dinemo zorne. Allein, in sehr vielen Fällen, in welchen man die
Ursache, ehedem mit vor ausdruckte, sind jetzt aus, von, wegen u. s. f. üblich.
ee. Einen Vorzug, eine unmittelbare Figur der eigentlichen Bedeutung des Ortes
und der Zeit. Fora alla, Kero. Fur ella wib, einer der Schwäbischen Dichter.
Gnade vor Recht ergehen lassen. Das hat er vor dir voraus. Das ist mir vor
vielen andern Dingen lieb. Vor allen andern. Vor allen Dingen. Wir haben alle
unsere Fehler, nur einer von dem andern, Gell.; einer mehr als der andere. Die
Hoheit und Göttlichkeit, welche der Weisheit der Religion vor der Weisheit der
Vernunft eigen ist, eben ders. Der Accusativ würde hier ein Fehler seyn, ob
sich gleich Beyspiele davon finden. Begleite mich zu deinen rechten Steigen,
denn solches geht vor alle Fröhlichkeit, Ps. 119, 8. Laß Gunst vor gute Sachen
gehen, Opitz; wo das Zeitwort gehen beyde Verfasser irre geführet zu haben
scheinet, ob gleich ganz Deutschland sagt, einem vorgehen. 2. Mit dem Accusativ
oder der vierten Endung, eine Bewegung oder Richtung nach dem vordern Theile
eines Dinges zu; im Gegensatze des hinter. Kommt vor sein Angesicht. Führet ihn
vor den Richter. Vor den Herrn treten. Einen Stein vor den Brunnen, vor die
Thür des Grabes wälzen. Jemanden vor die Thür, vor das Lager stellen. Werfet
die Perlen nicht vor die Säue. Lauter biblische Ausdrücke. Vor den Spiegel
treten. Die Pferde vor den Wagen spannen. [
1249-1250] Komm
mir nicht vor meine Augen. Vor eine Stadt rücken. Vor das Thor gehen. Jemanden
vor Gericht fordern. Die Feinde streifen bis vor die Stadt. Sich vor den Tisch
setzen. Jemanden vor den Kopf stoßen. Vor den Riß treten. Sich vor Anker legen,
vor Anker gehen, in der Schifffahrt, den Anker auswerfen; dagegen in vor Anker
liegen, das Hauptwort in der dritten Endung steht. Sagt nichts, damit es nicht
vor ihn komme, damit er es nicht erfahre. Figürliche Arten des Ausdruckes sind.
Die Sache geht vor sich, geschiehet, kommt zur Wirklichkeit. Die Heirath wird
nicht vor sich gehen, geht zurück. Etwas vor sich bringen, zeitliches Vermögen
erwerben. II. Ein Nebenworte, für zuvor, vorher, eher. Lerne vor selbst, ehe du
andere lehrest, Sir. 18, 19. Vor gethan und nach bedacht. Vor wie nach.
Zugleichen für ehedem. Vor war er klein, jetzt ist er groß. Die ihm vor so sehr
behagt, Opitz. Im Hochdeutschen ist dieser ganze adverbialische Gebrauch
abgekommen, daher Ramler ihn in den Horazischen Oden wieder in Übung zu bringe
gebraucht hat. Anm. Schon bey dem Ottfried fora, bey dem Ulphilas faura, im
Nieders. vär, im Engl. for, Schon bey dem Worte für ist so wohl von dem
Ursprunge dieser Partikel, als auch von ihrer Geschichte und ihrem heutigen
Unterschiede von für, umständlich gehandelt worden, welches hier mit
nachgelesen werden muß. Hoffentlich wird das dort und hier gesagte hinreichen,
beyde Partikeln in allen Fällen richtig zu unterscheiden. Vor hat die
eigentlichen Bedeutungen, nebst einigen der nächsten figürlichen für sich
behalten; die entferntern figürlichen sind dem Wörtchen für zu Theile geworden.
Der einzige Fall, der noch zweifelhaft scheinen könnte, ist, wenn es mit
gewissen Hauptwörtern eine Ordnung bezeichnet. Tag vor Tag. Ich will es Scene
vor Scene lesen. Allein der beste Gebrauch ist auch hier für das für.
S. dieses Wort. Dieses Vorwort wird mit allerley Wörtern
zusammen gesetzt. Voran, voraus, vorher, hervor, zuvor, bevor u. s. f. Daß in
den Zusammensetzungen mit Haupt- und Zeitwörtern der heutige genaue Unterschied
zwischen dem vor und für nicht beobachtet werde, ist schon bey dem letztern
Worte bemerket worden. Die Ursache ist, weil die Zusammensetzungen gebildet
worden, da dieser Unterschied noch nicht angenommen war. Sie jetzt umzuprägen,
würde nicht rathsam seyn, zumahl, da in manchen Wörtern beyde Bedeutungen
zusammen fließen, die wahre sich auch nicht alle Mahl genau bestimmen läßt. Die
Herren, welche gern so rasch zu Veränderungen und Verbesserungen schreiten,
sehen die Sache selten in ihrem Umfange ein, und richten daher durch ihre
Neuerungen mehr Schaden als Nutzen an. [
1249-1250]