Voll
, [
1227-1228] adj. et adv. voller, volleste,
in einigen gemeinen Mundarten, völler, völleste. Es bedeutet, so viel von einem
andern Dinge enthaltend, als es nur fassen kann, als der Raum nur verstattet,
ausgefüllet; im Gegensatze des leer. 1. Eigentlich. Ein volles Glas, welches
mit einem andern Dinge angefüllet ist. Ein voller Becher. Ein voller Beutel,
der mit Gelde angefüllet ist. Mit vollem Munde sprechen, indem der Mund mit
Speisen angefüllet ist. Mit vollem Munde loben, auf eine übertriebene, unmäßige
Art. Jemanden ein volles Maß geben. Ein volles (mit Milch angefülltes) Euter.
Volle Ähren. Das volleste Gefäß. Ingleichen in der Adverbial-Form. Das Glas ist
voll. Der Beutel ist noch lange nicht voll. Den Mund sehr voll nehmen. Wenn sie
die Töne nach der Tiefe wenden, so muß de Sänger den Mund immer voller nehmen.
Die Summe ist noch nicht voll. Das Hundert war schon mehr als voll. Die
Schatzkammer ist jetzt voller, als sie jemahls gewesen. Voll bezieht sich, es
mag als ein Beywort, oder als ein Nebenwort stehen, vermöge seiner Bedeutung,
allemahl auf denjenigen Körper, welcher mit etwas angefüllet ist. In den
vorigen Fällen war dieses Etwas verschwiegen, weil es leicht aus dem
Zusammenhange ersehen werden konnte. Allein, in vielen Fällen muß es
ausdrücklich gemeldet werden, und alsdann hat das Wort voll manches Besondere.
Es geschiehet solches entweder vermittelst der Partikel von. Das Glas ist voll
von Bier. Das Haus war voll von Menschen. Voll von hochmüthigen Gedanken, Mosh.
Doch diese Form wird jetzt selten mehr gebraucht, außer, wenn die ganze
Redensart elliptisch oder in Gestalt eines Mittelwortes stehet. Voll von einer
unaussprechlichen Freude - kamen wir auf unser Zimmer. Oder, wenn das voll
hinter das Kennwort gesetzt wird, welches besonders in der höhern und
dichterischen Schreibart üblich ist. Er hat den Kopf von meinen Blattern voll,
Weiße. Von Wein und Lieben voll, Raml.
O seht, ein großer Topf von lauter Golde voll, Gell.
Ingleichen in solchen Fällen, wo schon die Wortführung das
voll hinter das Nennwort wirft. Die Erzählung dieser Begebenheiten, von welchen
ich ganz voll war, mußte ich aufschreiben. Zuweilen mit Auslassung des
Vorwortes von, so daß das Nennwort in der dritten Endung stehen bleibet. Blicke
voll göttlichem Tiefsinn, Klopst.
Ich weiß es, deine Tugend Hebt sich voll edlem Flug weit über
deine Jugend, Weiße.
Doch diese Art ist die seltenste, und gehöret mit zu den
dichterischen Freyheiten.
Üblicher ist die zweyte Endung. Fol alles mannes, Ottfried.
Voll Frevels, voll Ungeziefers, voll Lasters, voll Silbers
und Goldes, voll Segens des Herrn, voll Traurens, voll Lachens u. s. f. in der
Deutschen Bibel. Die Erde ist voll deiner Güte, Ps. 33, 5. Weß das Herz voll
ist, Matth. 12, 34. Andromache, voll ihres Verlustes und voll einer
schrecklichen Zukunft, Jacobi. Daß wir einst voll heiligen Entzückens in
dunkeln Hainen einher geben, Geßn. Voll sanften Entzückens seufzte der Greis,
eben ders. Voll der Begeisterung, die alle Bande der Natur zerreißt, Zimmerm.
Voll neugierige Erwartung an der Thür stehen.
Sieh, die Blume richtet sich auf; voll blitzender Perlen,
Lacht sie schöner umher, Zachar. Und hängt voll lüsterner Begier Bloß seinen
Freuden nach, Weiße.
Wo, besonders in der höhern Schreibart, das voll auch hinter
den Genitive teilt.
Denn er, mein treuer Knecht, gerechten Wandels voll, Durch
sein Erkenntniß viel rechtfertig machen soll, Opitz. Er öffnet eine Flasche
Wein Und läßt, des Giftes voll zu seyn, Sich noch die zweyte reichen, Haged.
Und alsdann mit dem Genitiv oft zusammen gezogen wird, Bey-
und Nebenwörter zu bilden. Anmuthsvoll, segensvoll, sehnsuchtsvoll,
mitleidsvoll u. s. f. In dem gewöhnlichen Sprachgebrauche der Hochdeutschen
stehet das Hauptwort gemeiniglich ganz unverändert ohne alles Merkmahl des
Genitivs, als wenn es diese erste Endung wäre. Ein Beutel voll Geld. Eine
Scheuer voll Getreide. Ein Glas voll Wasser. Der Hafen war ganz voll Schiffe.
Das Meer ist voll Seeräuber, das Buch voll Irrthümer. Der Mund läuft ihm voll
Wasser. Der Baum ist voll Früchte. Ein Arm voll Holz. Voll Erwartung saß ich
da. Da sie so voll Schmerz sich aus meinen Armen losreißen. Daß in manchen
Fällen hier ein wahrer Genitiv Statt findet, erhellet, wenn man dem Substantiv
ein Beywort vorsetzt. Der Hafen war voll feindlicher Schiffe. Das Meer ist voll
wilder Seeräuber, das Buch voll grober Irrthümer. Voll froher Erwartung. Aber
in andern Fällen doch die erste, oder, wenn man will, die vierte Endung
unläugbar: voll Geld, voll Holz. Die ganze Form ist indessen elliptisch, und
verräth, daß von ausgefallen worden; ein Beutel voll von Geld, ein Arm voll von
Holz. Sie findet nur alsdann Statt, wenn das Hauptwort kein Beywort bey sich
hat. Hat es eines bey sich, so muß es entweder das von vor sich haben, oder im
Genitiv stehen. Voll von froher Erwartung, oder voll froher Erwartung, nicht
voll frohe Erwartung. Voll vom süßen Weine, oder voll süßen Weines nicht voll
süßen Wein. Indessen lassen sich auch in dieser Form Zusammensetzungen machen:
kummervoll, für kummersvoll, eine schauervolle Nacht. Sehr häufig pflegt man in
diesem Falle, wenn das Merkmahl des Genitivs an dem Nennworte stehet, die Sylbe
er an das voll zu hängen, voller. Voller Gnade und Wahrheit, Joh. 1, 4. Das
Buch ist volle Irrthümer, das Meer voller Seeräuber, das Haus voller
Ungeziefer. Der Mund lief ihm voller Wasser. Voller Schlaf seyn. Ein Mann
voller Treue und Redlichkeit. Ein Leben voller Büberey. Voller Wunden seyn.
Früchte voller Saft. Womit ich voller Blödigkeit so lange gezaubert habe,
Gottsched. Der Himmel ist voller Gewitter.
Und voller Neubegierde schielt Er bloß nach dem Gewinn, Weiße.
Die Götter müßten ja Die Erde voller Wälder machen, Kost.
Da diese Sylbe die Stelle des Genitivs vertritt, oder
vielmehr den Genitiv des folgenden Nennwortes anzeiget, so darf dieses kein
neues Merkmahl des Genitivs haben; voller Betrug, nicht voller Betrugs. Eben so
wenig kann dieses voller gebraucht werden, wenn das Hauptwort ein Beywort vor
sich hat, weil dieses den Genitiv hinlänglich bezeichnet, daher er in voll
entbehrlich ist, weil in mehrern Fällen nur Ein Merkmahl des Genitivs seyn
darf. Volhynien und Podolien sind noch voller Russischer Truppen.
O Brutus, voller tiefen Sorgen Seh' ich dein Herz für Rom
zertheilt, Less.
Sind beyde gleich fehlerhaft, indem es voll Russischer
Truppen und voll tiefen Sorgen heißen sollte. Die Erde ist voll deiner Güte,
nicht voller deiner Güte. [
1229-1230] Hieraus erhellet
zugleich, daß dieses er an dem voll ein wahres Überbleibsel des Articulus
postpositivus ist, welcher ehedem in der Deutschen Sprache häufiger gebraucht
wurde, als jetzt, oder gleich noch nicht ganz veraltet ist. Da dieser Artikel
unsern Sprachlehrern unbekannt ist, so ist es kein Wunder, daß sie nicht
wissen, was sie aus diesem voll machen sollen, und wenn ja einige auf die Spur
kamen, so stießen sie sich daran, das voller so wohl vor männlichen als
weiblichen Hauptwörtern gebraucht wird. Indessen ist dieser ganze Gebrauch des
voller mehr der gemeinen und vertraulichen Sprechart, als der edlern, in
welcher man denselben am sichersten vermeidet. Aus allem, was bisher von diesem
Worte gesagt worden, siehet man, daß voll nur alsdann als ein eigentliches
Beywort gebraucht wird, wenn dasjenige, womit ein Raum angefüllet ist,
verschwiegen wird. Ein voller Becher. Soll dasjenige, womit der Raum angefüllet
ist, ausgedruckt werden, so muß das Wort in der Adverbial-Form stehen. Ein
Becher voll Wein oder voll Weins, nicht ein von Wein voller Becher. Eben so
fehlerhaft ist, wenn einige Neuere in der höhern Schreibart ein von Kummer
voller Herz sagen, wo sie sich allenfalls mit der Zusammensetzung hätten helfen
können, ein kummervolles Herz. Da dasjenige, womit etwas angefüllet ist, seiner
Menge nach unbestimmt ist, so leidet voll auch keinen bestimmten Artikel nach
sich. Voll Güte des Herrn, nicht voll der Güte des Herrn. Wohl aber das
Fürwort; voll der Güte des Herrn, welche ich erfahren habe. 2. In einigen
figürlichen Bedeutungen, von welchem auch die meisten der vorigen Anmerkungen
gelten. (1) Für betrunken, doch nur in den harten und niedrigen Sprecharten.
Ein voller Mensch, ein trunkener. Sich voll trinken. Jemanden voll machen. Voll
werden. Voll seyn. Blindvoll, blitzvoll, hagelvoll, in den niedrigen
Sprecharten, im hohen Grade betrunken. (2) Einen hohen und doch nicht
übertriebenen Grad der Ausdehnung, den zur Vollständigkeit gehörigen Grad der
Ausdehnung habend, nur in einigen Fällen, wie vollkommen. Volle Hände, runde,
fleischige Hände. Eine volle Brust, eine vollkommene, gewölbte.
Sein Angesicht ist voll und rund, Weiße.
S. auch völlig. (3) In noch weitern Verstande, alle zur
Vollständigkeit gehörige Theile, sein gehöriges Maß und die gehörige Zahl
habend; ganz.
S. auch Völlig. Die Summe ist noch nicht voll. Einen
unwichtigen Ducaten für voll ausgeben. Es hat sein volles Gewicht. Der volle
Mond oder Vollmond. Der Mond ist noch nicht voll. Ich habe dir ein volles Jahr
Zeit gelassen. Er haßt sie aus vollem Herzen, von ganzem Herzen. Im vollesten
Wuchse standen die Bäume da, Geßn. Im vollen Laufe. Ich bin schon volle acht
Tage hier. Einem volle (völlige) Genüge thun.
Doch wird die Zwietracht nicht in vollen Flammen lodern,
Weiße.
Die volle Mast, in der Landwirthschaft, zum Unterschiede von
der halben, (
S. Mast.) Ein voller Bogen, in der Baukunst, der einen
halben Zirkel ausmacht, zum Unterschiede von einem gedruckten und flachen. Die
volle Marter, in den Gerichten, die ganze Tortur, wo der Inquisit auf der
Leiter ausgespannet wird. (4) Voll von etwas seyn, alle Empfindungen, alls
Kräfte des Geistes damit beschäftigen und solches äußern. Er war ganz voll von
dieser Begebenheit, sie beschäftigte seine ganze Seele. So auch ein volles
Herz, das ganz von Empfindungen Einer Art beschäftigt wird. Es überwältigte
mich die Bewegung eines zu vollen Herzens. Mein Herz ist voll, es kann seine
Fülle nicht mehr fassen, Dusch. [
1229-1230] Anm. 1. Dieses
Wort wird mit allerley Redetheilen zusammen gesetzt, und nimmt seine Stelle
alsdann so wohl vorn als hinten; letzteres nur allein mit solchen Hauptwörtern,
sehnsuchtsvoll, kummervoll, wehmuthsvoll u. s. f. welche den Gegenstand oder
die Materie der Fülle bezeichnen, ersteres aber auch mit andern Arten und
Wörtern, (
S. sie im folgenden.) Wenn es mit Zeitwörtern
zusammengesetzt wird, so wirft es seinen Ton auf das Zeitwort, und wird zur so
genannten untrennbaren Partikel, welche ihre Stelle vor dem Zeitworte
unverändert behält, und daher auch kein Augment leidet. Vollenden, vollbringen,
vollführen. Ich habe vollendet, vollbracht u. s. f. Nur hüthe man sich, nicht
solche Redensarten für Zusammensetzungen zu halten, welche keine sind, sondern
wo voll das gewöhnliche Nebenwort ist. Ein Glas voll gießen, etwas voll machen,
voll füllen, voll seyn, voll werden u. s. f. sind keine Zusammensetzungen,
theils, weil hier so wohl das Neben- als auch das Zeitwort seinen eigenen
vollständigen Ton hat, theils auch, weil die Bedeutung ganz einfach und nichts
weniger als elliptisch oder figürlich ist. Daher folgt das Nebenwort in der
Conjugation auch der gewöhnlichen Regel: ich mache voll, bin voll gewesen.
Gottsched und andere Sprachlehrer geben es hier sehr irrig für eine trennbare
Partikel aus; da doch hier keine Zusammensetzung Statt findet, sondern voll ein
Nebenwort von der gewöhnlichen Art ist. Anm. 2. Dieses alte Wort lautet schon
bey dem Ulphilas fulls, bey dem Ottfried und seinen Zeitgenossen ful, in
Nieders. vull, im Angels. ful, im Isländ. follin, im Griech. hier
nichtlateinischer Text, siehe Image. Aus dem doppelten I erhellet, daß
es ein Intensivum von voll ist, und eigentlich den Laut einer sehr wühlenden
Menge ausdruckt. Das Nieders. bedeutet so wohl voll als viel. In der
Sclavonischen Mundart heißt voll plue, pluy, poln, welches die Verbindung
unsers voll mit dem Latein. plenus zu bezeichnet scheinet. Die älteste
Schreibart dieses Wortes ist freylich foll; indessen ist das f schon sehr frühe
mit dem v vertauschet worden, welches nunmehr allgemein ist; ob man gleich das
f in dem Hauptworte Fülle und den Zeitworte füllen beybehalten hat,
S. dieselben. [
1229-1230]