Verstehen
, [
1149-1150] verb. irreg. (
S. Stehen,) welches in doppelter Gattung gebraucht wird.
I. Als ein Neutrum mit dem Hülfsworte seyn, über die gehörige Zeit stehen, am
häufigsten von Pfändern. Das Pfand ist verstanden, ist verfallen. Verstandene
Pfänder, verfallene. Wo es auch in einigen Gegenden als ein Reciprocum
gebraucht wird, das Pfand hat sich verstanden, in welchem Falle es doch
zunächst nicht so wohl verfallen zu bedeuten scheinet, als vielmehr, daß durch
langes Stehen und angeschwollene Zinsen der Werth des Pfandes erschöpft worden.
Im Bergbaue sagt man gleichfalls, einen Kur verstehen, die Zubuße nicht
abführen, so daß der Kur verfällt. II. Als ein Activum und Reciprocum. 1. Durch
langes Stehen schadhaft oder untüchtig werden, als ein Reciprocum, in welchem
Verstande man von Thieren oder Menschen sagt, sie haben sich verstanden, wenn
sie durch langes Stehen steif und träge geworden sind. Auf ähnliche Art sagt
man sich versitzen, verliegen u. s. f. 2. Sich zu etwas verstehen, sich zu
einer unangenehmen Sache entschließen. Er wollte sich nicht dazu verstehen. Hat
er sich dazu verstanden? Ich verstehe mich gleich zur Feuerprobe, zu beweisen,
u. s. f. Die allgemeine Menschenliebe, zu der wir uns so ungern verstehen. 3.
Als ein wahres Activum bedeutet dieses Zeitwort sehr häufig, die Bedeutung der
Wörter einer Rede, oder überhaupt eines jeden Zeichens, wahrnehmen. (1)
Eigentlich. Man verstehet jemanden. Man verstehet eine Rede, ein Wort, ein
Zeichen, wenn man eben den Gedanken damit verknüpft, welchen der Urheber der
Rede oder des Zeichens damit verbindet. Ich verstand ihn nicht. Du sprichst so
undeutlich, daß man dich nicht verstehen kann. Ich habe nichts davon
verstanden. Er verstehet jeden Wink, jede Miene. Jemanden falsch, unrecht
verstehen. Was verstehest du darunter? was wolltest du damit sagen, was ist
deine Meinung dabey? Durch Einsamkeit verstehe ich jede Entfernung von der
Gesellschaft der Menschen. Das versteht sich von selbst, im gemeinen Leben, das
versteht sich am Rande, das ist außer allem Streit, ist unläugbar, ist leicht
anzusehen. Scherz verstehen, einen Scherz als einen Scherz aufnehmen, nicht
empfindlich darüber werden. Er verstehet keinen Spaß. Oft bedeutet es auch, die
Absicht einer Forderung einsehen. Du wirst mich schon verstehen. Aber er
verstand Unrecht und versetzte ihm einen Schlag, sagt man im gemeinen Leben,
wenn jemand ohne scheinbare hinlängliche Reitzung ausschlägt. Jemanden etwas zu
verstehen geben, es ihn auf eine verdeckte Art merken lassen. Im Oberdeutschen
wird es oft für ersehen gebraucht. Ich habe aus dem Briefe verstanden, ersehen.
(2) Figürlich. a. Sich mit jemanden verstehen, gemeinschaftlich mit ihm zu
einer geheimen Absicht wirken. Sie haben sich mit einander verstanden, sich
verglichen. Man sagt auch wohl ohne Reciprocation: sie sind darüber verstanden,
sind in dieser Sache einig. Einverstanden seyn, einig seyn, und sich mit
jemanden vereinständigen, sind nur im Oberdeutschen üblich. (Siehe
Verständniß.) b. Sehr häufig ist das Activum verstehen, klare, und im engsten
und wissenschaftlichen Verstande, deutliche Begriffe von etwas haben. Eine
Sprache, eine Kunst, ein Handwerk, eine Wissenschaft verstehen, sie kennen.
Verstehen sie Französisch, Englisch? u. s. f. Er verstehet nichts davon. So
viel ich von dieser Sache verstehe. Die Mathematik, die Philosophie, nichts von
der Astronomie verstehen. Ingleichen in einigen Fällen als ein Reciprocum, da
denn die Sache vermittelst des Vorwortes auf ausgedruckt wird. Sich auf das
Reiten, auf das Fechten, auf das Wahrsagen, auf das Drechseln verstehen. Wenn
du dich darauf besser verstehest, als ich. Ich verstehe mich aufs Frauenzimmer,
kenne es, weiß, wie mit demselben umzugehen ist.
Ein Mann, der sich auf vielerley verstand, Gell.
Von Sprachen, Wissenschaften und wissenschaftlicher Kenntniß
ist diese Wortfügung nicht so gewöhnlich. Opitz übersetzt das: Si sentire datur
post fata quietis, durch:
Im Fall ein Geist sich auch noch auf die Welt versteht.
Im mittlern Lateine kommt intelligere se in aliquare re in
eben derselben Bedeutung vor.
S. Verstand, Verständlich u. s. f. Anm. In der letzten
Hauptbedeutung ist dieses Wort schon sehr alt, indem es schon bey dem alten
Übersetzer Isidors firstan, bey dem Ottfried firstuan und irstuan, bey dem
Willeram verstan lautet; Nieders. verstaan, Schwed. förstä. Die Figur ist
freylich dunkel, allein sie läßt sich doch errathen. Die Angelsachsen
gebrauchten dafür understan, und noch die heutigen Engländer understand. Es
scheinet, daß in, unter und ver, welche alle in dieser Bedeutung mit dem
Zeitworte stehen verbunden worden, so viel als eine Gegenwart, vor, bedeutet
haben, so daß es eigentlich vor etwas stehen, einer Sache gegenwärtig seyn,
bedeutet haben würde; welches noch dadurch bestätiget wird, daß Ottfried und
andere dieses Wort auch für wahrnehmen, merken, empfinden, gebrauchen. Das
Griechische hier nichtlateinischer Text, siehe Image, ich weiß,
verstehe, gründet sich eben auf dieselbe Figur, obgleich solches gemeiniglich
von hier nichtlateinischer Text, siehe Image hier
nichtlateinischer Text, siehe Image abgeleitet wird; vielleicht nur,
weil man nichts bessers wußte, und bloß der Ähnlichkeit des Klanges nachging.
In dem Lat. intelligere, für interligere, scheint eine ähnliche Figur zu
herrschen, obgleich die Bedeutung des ligere hier noch dunkel ist. Übrigens
bedeutet verstehen im Niederdeutschen auch überstehen, aushalten. Eine
Krankheit verstehen, überstehen; einen guten Trunk verstehen, vertragen können.
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1149-1150]