Verlieren
, [
1273-1274] verb. irreg. ich verliere, du
verlierst, (Oberd. verleurst,) er verliert, (Oberd. verleurt); Imperf. ich
verlor, Conj. verlöre; Mittelw. verloren; Imper. verliere, (Oberd. verleur.) Es
ist in doppelter Gestalt üblich. 1. Als ein eigentliches Activum, um den Besitz
eines Dinges kommen, mit der vierten Endung dieses Dinges. (1) Eigentlich, wo
es ein allgemeiner Ausdruck ist, der die nähere Art und Weise unbestimmt läßt.
Das Leben, den Verstand, sein Vermögen, seine Gesundheit verlieren. Das Fieber
verlieren. Die Schmerzen, Empfindung, das Reißen in den Gliedern verlieren.
Einen Sohn verlieren, so wohl durch den Tod, als auch in der folgenden engern
Bedeutung, um dessen Gegenwart kommen, ohne zu wissen, wo er sich jetzt
befindet. Den Kopf verlieren, enthauptet werden.
Die Zwietracht, die mit Gift ihr Leben nährte, Verliert den
Hydra-Kopf durch einen Streich, Raml.
Die Freyheit, die Gesundheit, sein Gesicht, ein Auge, durch
einen Schuß einen Arm, seine Ehre, im Kriege viele Leute verlieren. Das Herz,
den Muth verlieren. Die Sonne verlor ihren Glanz, der Mond seinen Schein. Man
möchte alle Geduld verlieren. Die Hoffnung verlieren. Und so in andern Fällen
mehr, besonders in solchen, wo die Art des Verlustes durch kein eigenes Wort
näher bestimmt ist, oder bestimmt werden soll. Einen Freund verlieren, entweder
durch den Tod, oder durch die Entfernung, oder auch, weil er unser Feind
geworden. Ich habe einen Freund an ihm verloren. Du weißt nicht, was du an mir
verlierest. Ich verliere viel, wenig, nichts bey der Sache. Das Mittelwort
verloren wird mit einigen Zeitwörtern so wohl in dieser, als einigen der
folgenden Bedeutungen, noch auf eine besondere Art gebraucht. Verloren gehen,
verloren werden. Es ist mir ein Capital verloren gegangen, ich bin darum
gekommen.
Alles ging für mich verloren, Als ich Sylvien verlor, Gell.
Einige andere Bedeutungen dieser R. A. kommt im folgenden
vor. Etwas verloren geben, glauben, daß es so gut wie verloren sey, es für
verloren halten. Wir geben eine Sache verloren, wenn wir glauben, daß wir sie
verlieren, oder nie wieder bekommen werden. (2) In einigen engern und
figürlichen Bedeutungen. a) Den Proceß verlieren, die gesuchte Sache nicht
erhalten, im Gegensatze des Gewinnes. So auch eine Schlacht verlieren,
überwunden werden. Im Spiele verlieren, verspielen. Viel Geld verlieren, im
Spiele. Wer hat verloren? im Spiele; auch im Gegensatze des gewinnen. Ein Spiel
verloren geben, überzeugt seyn, daß man es verlieren werde. b) Überaus häufig
verliert man eine Sache, wenn man, aus Mangel der Aufmerksamkeit, um den
Besitz, und im weitern Verstande, um die Empfindung derselben kommt, ohne zu
wissen, wo sie sich befindet. Seine Uhr, seine Börse verlieren. Ich habe es
verloren. Suchen, was verloren ist. Das Verlorne wieder finden. Der verlorne
Sohn, in der Deutschen Bibel. Ein verlornes Schaf. Den Weg, die Spur verlieren,
die Empfindung davon. Etwas aus den Augen, aus dem Gesichte verlieren. c) Ohne
den gehofften Nutzen anwenden, gebrauchen. Alle Mühe und Arbeit ist hier
verloren. Ich verliere nur mein Geld dabey. Alle Schläge, alle Ermahnungen,
alle Wohlthaten sind an, oder bey ihm verloren. Da siehet man, daß dein
Vertrauen nichts ist, und deine Almosen verloren sind, Tob. 2, 22. Ich mag kein
Wort weiter darum verlieren. Es ist Hopfen und Malz an ihm verloren. Die Zeit
verlieren, sie unnütz hinbringen. Sie verlieren die kostbarste Zeit mit
unnützen Seufzern. Wir haben keine Zeit zu verlieren, es ist die höchste Zeit,
wir müssen eilen. Einen Tag verlieren, ihn ungenützt verstreichen lassen. Ein
verlorner Augenblick ist jetzt für mich ein verlornes Jahrhundert, Weiße. d)
Das Mittelwort wird noch in folgenden figürlichen Fällen gebraucht. aa) Die
verlorne Schildwache, im Kriege, die äußerste Schildwache, welche dem Feinde am
nächsten ist, und gemeiniglich verloren gegeben wird. bb) Das verlorne Huhn, in
den Küchen, ein Gericht aus geräuchertem Schweinefleisch, mit Möhren, grünen
Erbsen und Bohnen u. s. f. cc) Etwas ver- [
1275-1276]
loren machen, nur ungefähr, einstweilen, um es hernach besser zu machen. Den
Umriß einer Figur nur verloren zeichnen. Ein verloren Treiben, in der Jägerey,
ein Treiben, ohne den Wald mit Zeug und Netzen zu umstellen, um nur ungefähr zu
sehen, ob noch Wild darin befindlich ist. Einen verlornen Zug thun, in der
Markscheidekunst, den Tagezug nur so ungefähr, wie in der Grube verrichten. dd)
Verloren seyn, im höchsten Grade und ohne Rettung unglücklich. Ein verlorner
Mensch, dem nicht mehr zu helfen ist. Verloren ist eine weibliche Seele ohne
wahre Frömmigkeit. In der Deutschen Bibel und der Theologie ist verloren gehen,
in engerer Bedeutung verdammt werden, ewig unglücklich werden. 2. Als ein
Reciprocum, sich verlieren, sich nach und nach und gleichsam unbemerkt aus
unserer Gegenwart, und im weitern Verstande auch, aus unserm Empfindungskreise
entfernen, ohne weitere Bestimmung der Art und Weise. (1) Eigentlich. Die
Zuschauer verlieren sich, wenn sie sich nach und nach entfernen. Sich aus den
Augen, aus dem Gesichte verlieren. Die Flecken auf der Haut haben sich
verloren. Das Fieber hat sich verloren. Die Schmerzen wollen sich noch nicht
verlieren. Eine Sache verliert sich leicht, wenn sie so beschaffen ist, daß man
sie leicht verlieren kann. (2) Figürlich. a) Von Farben sagt man, sie verlieren
sich, wenn sie unvermerkt in andere Farben übergehen, welches in manchen Fällen
auch verlaufen genannt wird. Ein goldner Saum verliert sich am Ende der Flügel
(des Schmetterlinges) ins Grüne, Geßn. Die Umrisse einer Figur verlieren sich,
wenn sie sich unvermerkt mit dem Grunde vermischen. Bey den Kupferstechern
verlieren sich die Schnitte, wenn sie unmerklich in andere Schnitte, oder in
die Grundfläche übergehen. Nach einer noch weitern Figur. Pracht, Größe und
Würden verlieren sich in der Nacht des Grabes. b) Sich in einer Vorstellung in
einem Gedanken verlieren, in der edlern Schreibart für verirren.
O, wie verlor mein Geist sich in erträumten Bildern, Und wußte
sich vergnügt die Zukunft abzuschildern! Cron.
Oft verliert sich die Seele unter einer unendlichen Menge von
Empfindungen, weil sie nicht weiß, wo sie stille stehen soll. Daher das
Verlieren, in den meisten Fällen der thätigen Gattung, indem das Hauptwort die
Verlierung nicht mehr gebraucht wird.
S. auch Verlust, welches in vielen dafür üblich ist.
Anm. Bey dem Notker firlüren, (bey dem Schilter irrig fluren, weil es in der
Handschrift vermuthlich abbreviirt war,) bey dem Kero und andern alten
Oberdeutschen farleosan, serliesen, verliesen, bey dem Ulphilas fraliusan, im
Angels. forleoran, im Nieders. verlesen, im Schwed. förlora und förlata, im
Dän. forlise und forlore. Daß ver hier eine bloße Intension bezeichnet,
erhellet aus den einfachen lieren und liesen, welche ehedem häufig für
verlieren gebraucht wurden, wohin das Nieders. lesen, das alte Gothische
liusan, das Angels. losjan, das Engl. to lose, liese, das Schwed. Lyra, der
Verlust, u. a. m. gehören. Opitz gebraucht noch gelosen in eben demselben
Verstande.
Durch solche Freundlichkeit und süßes Liebekosen Macht sie,
daß ich mir nicht begehre zu gelosen Den Kummer, der mich kränkt. Ich weiß
nicht, wie ich doch die Fantasie gelose, eben ders.
Lieren und liesen sind nur in dem Endlaute verschieden, indem
r und s sehr oft und leicht in einander übergehen. Die letzte Form, welche noch
in unserm Verlust herrschet, scheint die älteste zu seyn. Dieses liesen ist
allem Ansehen nach mit los Eines Geschlechtes, von beyden ist lassen eine Art
eines Intensivi. Die alte Form [
1277-1278] du verleurst,
er verleurt u. s. f. der Mon verleurt seinen Schein, Buch der Natur von 1483,
ist selbst im Oberdeutschen nur noch in einigen rauhen und harten Mundarten
gangbar, und verdiente daher weder hier, noch in den übrigen Zeitwörtern,
welche vor der Endsylbe des Infinitivs ein ie oder ein ü haben, im
Hochdeutschen Sprachlehren empfohlen zu werden. [
1277-1278]