Urtheilen
, [
1159-1160] verb. reg. act. et neutr.
welches im letztern Falle das Hülfswort haben erfordert. Es bedeutet nach
Maßgebung des vorigen Hauptwortes, 1. gerichtlich entscheiden, in einer
streitigen Sache als Richter erkennen, wo es ehedem sehr häufig als ein Activum
mit der vierten Endung der streitigen Sache gebraucht wurde. Noch sprechet ihr,
der Herr urtheilet nicht recht, da ich doch einen jeglichen nach seinem Wesen
urtheile, Ezech. 33, 20. Der seine Hand vom Unrechten kehrt, der zwischen den
Leuten recht urtheilet, Kap. 18, 8. Sey unerschrocken, wenn du urtheilen
sollst, Sir. 4, 9. Ottfried gebraucht es mehrmahls mit der vierten Endung für
verurtheilen. Als ein Activum ist es für sich allein in dieser Bedeutung im
Hochdeutschen völlig veraltet; man gebraucht es nur noch zuweilen absolute und
als Neutrum, obgleich auch hier die Redensarten das Urtheil fällen, sprechen
und so ferner, üblicher sind. 2. In weiterer Bedeutung urtheilet man, wenn man
sich seiner Meinung von der Beschaffenheit einer Person oder Sache bewußt ist,
oder selbige äußert; wo es ehedem auch als ein Activum mit der vierten Endung
der Person oder Sache üblich war. Strafe dich vor selbst, ehe du andere
urtheilest, Sir. 18, 21; d. i. ehe du sie beurtheilest, über sie urtheilest.
Des Himmels Gestalt könnet ihr urtheilen, könnet ihr denn auch nicht die
Zeichen dieser Zeit urtheilen? Matth. 16, 3. Wer bist du, der du einen andern
urtheilest? Jac. 4, 11, 12. Auch hier ist es als ein Activum veraltet, indem
dafür beurtheilen üblicher ist. Am häufigsten druckt man den Gegenstand mit den
Vorwörtern von und über aus. Unparteyisch von der Sache zu urtheilen. Nach sich
von andern urtheilen. Kennest du ihn, so würdest du anders von ihm urtheilen.
Warum sollte ich meine Freyheit lassen urtheilen von eines andern Gewissen, 1
Cor. 10, 29. Ich will nicht darüber urtheilen. Ich will andere darüber
urtheilen lassen. Ingleichen absolute. Ich will nicht selbst urtheilen. Andere
mögen urtheilen, ob es recht ist. 3. Im weitesten Verstande, der doch in der
philosophischen Schreibart am üblichsten ist, urtheilet man, wenn man das
Verhältniß zweyer Begriffe erkennet, und diese Erkenntniß äußert. Ich urtheile,
wenn ich mir vorstelle, daß das Eisen glühend ist, oder daß es nicht glühend
ist, weil ich alsdann die beyden Begriffe Eisen und glühend verbinde oder
trenne. Stelle ich mir aber ein glühendes Eisen nur vor, so urtheile ich noch
nicht, sondern ich habe nur einen bloßen Begriff davon. So auch das Urtheilen
für das ungewöhnliche Urtheilung. Anm. Dieses sehr alte Wort lautet bey unsern
ältesten Schriftstellern bald urdeilan, urteilan, bald aber auch ardeilan,
udeilan, irteilen, erteilen, in welcher letztern Gestalt es besonders bey den
Schwäbischen Dichtern üblich ist. Im Niedersächsischen lautet es ordelen, im
Schwedischen ordela. Es kommt in der gerichtlichen Bedeutung des Richters,
Rechtsprechens, Entscheidens am frühesten vor. In dem alten Alemannisch.
Glaubensbekenntisse der dem Goldasi heißt es: ich geloub in dannan kunftig an
dem jungesten Tag, ertailen viber lebend unt viber tot. Woraus zugleich
erhellet, das urtheilen so viel als ertheilen ist, nicht zwar in der heutigen
Bedeutung, sondern so fern er für ent, dis, stehet, ertheilen aber mit
entscheiden, discernere, gleich bedeutend ist, welche beyden Wörter sich auf
einerley Figur gründen. Von dem gerichtlichen Urtheile ward dieses Wort
nachmahls auf die Erkenntniß des Verhältnisses einer Person oder Sache, und
endlich auf die Erkenntniß des Verhältnisses zweyer Begriffe angewandt.
[
1161-1162]