Das Urtheil
, [
1157-1158] des -es, plur. die -e, ein
altes, in verschiedenen nahe verwandten Bedeutungen übliches Wort. 1. Der
Ausspruch eines Richters über eine streitige Sache, wodurch sie entschieden
wird, so wohl in bürgerlichen als peinlichen Sachen. Ein Urtheil fällen, ehedem
finden. Das Urtheil sprechen. Das Urtheil über jemanden fällen. Das
Todesurtheil sprechen. Der Richter spricht oder fället in peinlichen Sachen das
Urtheil und der Landesherr bestätiget oder unterschreibet es. Nach Urtheil und
Recht gestraft, hingerichtet werden. Das Urtheil an jemanden vollziehen.
Urtheil wird im weitesten Verstande von allen Aussprüchen des Richters in
rechtlichen Sachen gebraucht, in engerm Verstande unterscheidet man dieselben
noch nach ihren Arten. Der Ausspruch des Richters in einer Streitsache wird oft
auch der Spruch genannt. Ein Spruch oder Urtheil, welcher die Hauptsache
entscheidet, heißt das Endurtheil, wenn es aber nur einen Nebenumstand
entscheidet, ein Beyurtheil. Das Gutachten oder Informat-Urtheil, welches in
manchen Fällen auch ein Bedenken heißt, ist bloß die außergerichtliche Äußerung
seines Urtheiles über eine Rechtssache. Die letzte Sylbe dieses Wortes wird in
dieser Bedeutung im gemeinen Leben sehr kurz ausgesprochen, als wenn es Urtel
geschrieben wäre, welches ohne Zweifel von dem langen Gebrauche herrühret, und
zugleich dem Satze in der Anmerkung, daß diese Bedeutung allem Ansehen nach,
die erste ist, zur Bestätigung dienet. In einigen Gegenden ist es in dieser
Bedeutung weiblichen Geschlechtes, die Urtheil. 2. In weiterer Bedeutung, ein
jedes Gutachten, eine jede Meinung von der Beschaffenheit eines Dinges, die
Erkenntniß von der Beschaffenheit eines Dinges und deren Äußerung. Ein Urtheil
über etwas fällen. Sein Urtheil über eine Sache zurück halten. Jemanden um sein
Urtheil fragen. Etwas jemandes Urtheile anheim stellen. Meinem Urtheile nach,
ist es nicht rathsam. Nach meinem Urtheile, ist es unmöglich. Wo es eigentlich
die auf die Verbindung der Umstände gegründete Meinung von der guten oder bösen
Beschaffenheit eines Dinges bezeichnet. 3. Im weitesten Verstande ist dieses
Wort in der Philosophie üblich, wo schon jede Verknüpfung oder Trennung zweyer
Begriffe, die Vorstellung des Verhältnisses zweyer Begriffe, ein Urtheil
genannt wird; z. B. das Eisen ist schwer, das Feuer ist nicht groß. Ein durch
Worte ausgedrucktes Urtheil heißt alsdann ein Satz. Das Grundurtheil, Judicium
intuitiuum, welches man vermittelst der Erfahrung fället, zum Unterschiede von
dem Nachurtheile, wozu man durch Schlüsse gelangt. 4. Ehedem wurde dieses Wort
auch häufig von dem Vermögen der Seele zu urtheilen, d. i. das Verhältniß
zweyer Begriffe zu erkennen, gebraucht, wofür doch jetzt Urtheilskraft und
Beurtheilungskraft üblicher sind.
Der ich mich stürz' in Pein ohn Urtheil und Verstand, Opitz.
Wenn Urtheil und Verstand bey mir zu Rathe sitzen, eben ders. So sag' ich, du
brauchst recht' dein Urtheil und Verstand, eben ders.
Du bist in dem Alter, da die besten Reisegesellen, Wahl und
Urtheil, mit dir ziehen, eben ders. Anm. Schon im Isidor und Ottfried Urdeil,
bey dem Kero und Notker mit der Endsylbe de, Urteilida und Urteilda, im
Nieders. Oordel, im Engl. Ordaal, und selbst im Böhmischen, wo es vermuthlich
aus dem Deutschen entlehnet ist, Ortel. Unsere Sprachforscher, welche überhaupt
sehr geneigt sind, in der Sylbe ur allerley Geheimnisse zu suchen, und darüber
oft den leichtesten und natürlichsten Weg verfehlen, haben auch dieses Wort auf
sehr verschiedene, und oft seltsame Art erkläret. Wachter führet die
vornehmsten ältern Ableitungen an, wo man sie, wenn man will, nachlesen kann;
er selbst sahe in diesem Worte nichts, wie Macht und Dunkelheit. Ihre leitet
das Schwedische ordela, urtheilen, vor or, ur her, so fern es die Endschaft
einer Sache bezeichnet, und von dem Schwed. dela, Engl. deal, streiten, und
erkläret es durch, einen Streit endigen. Allein, am natürlichsten bleibt man
bey der eigentlichen Bedeutung der Wörter stehen, und da ist urtheilen nichts
anders als ertheilen, so fern nähmlich er und ur hier so viel als ent
bezeichnet, und mit entscheiden und dem Lat. discernere gleich bedeutend ist,
indem in allen eine und eben dieselbe Figur herrscht. Discretio wird im
mittlern Lat. eine häufig für Urtheil, Beurtheilung gebraucht, und Kero
übersetzt es ausdrücklich durch Urteilida. In der alten Übersetzung einer
Schrift des Isidor bedeutet das ähnliche Ursiita,
[
1159-1160] von schleißen, spalten, theilen, gleichfalls
ein Urtheil in der ersten gerichtlichen Bedeutung. Ein Urtheil in den beyden
ersten und eigentlichen Bedeutungen ist doch nichts anders, als eine Theilung
oder Scheidung streitiger Begriffe. (
S. auch das folgende.) Von eben diesem Worte stammen
auch die Ordalia der mittlern Zeiten her, welches gewisse gerichtliche Beweise
waren; wobey jedesmahl ein unmittelbares Wunder angenommen wurde, daher man sie
als Endurtheile Gottes ansahe, und sie Gottesurtheile, kürzer Urtheile und Lat.
Ordalia nannte. Übrigens ist die Sylbe ur in diesem Worte und seinen Verwandten
kurz, dagegen sie in allen übrigen Zusammensetzungen lang ist.
[
1159-1160]