Reichen
, [
1035-1036] verb. reg. welches in
doppelter Gestalt gebraucht wird. I. Als ein Neutrum, mit dem Hülfsworte haben,
sich der Ausdehnung nach erstrecken. 1. Eigentlich, da es denn so wohl von der
Ausdehnung in die Höhe, als auch von der Ausdehnung in die Länge gebraucht
wird. 1) Im weitesten Verstande. Lasset uns einen Thurm bauen, dessen Spitze
bis an den Himmel reiche, 1 Mos. 11, 4. Das Wasser reichte mir bis an den Hals.
Der Baum reicht bis an das Dach. Die Stange reicht nicht so weit. Daß sein (des
Volkes) letztes reichte gegen den Abend der Stadt, bis an die westliche Seite,
Jos. 8, 13. Die Mauer reicht bis an den Fluß. Über jemanden reichen, d. i.
hervor ragen, ist nur im Oberdeutschen üblich. 2) In engerer Bedeutung, sich
mit einem Theile seines Leibes bis an etwas erstrecken, so wohl mit
ausdrücklicher Meldung des Gliedes. Mit der Hand an etwas reichen können.
Großer Herren Arme reichen weit. Mit dem Fuße an etwas reichen können. Als auch
absolute, da denn gemeiniglich die Hand darunter verstanden wird. Ich kann
nicht so weit reichen. Hinauf reichen, hinan reichen. Ich kann bis dahin
reichen.
S. auch Erreichen. 2. Figürlich. 1) Der Menge nach zu
etwas hinlänglich seyn. Der Zeug reicht nicht zu dem Kleide. Das Geld reichte,
hat gereicht, wird nicht reichen. Das reicht jährlich nicht für den Kaufmann
und Schneider, Weiße. Ingleichen mit etwas reichen, daran zu einer gewissen
Absicht genug haben. Damit werde ich nicht reichen. Wir haben damit gereicht. (
S. auch Ausreichen, Hinreichen, Zureichen.) 2) Sich der
Wirkung nach bis zu etwas erstrecken. Dein Ruhm wird bis an die Nachwelt
reichen. Meine Augen reichen nicht so weit, ihr Vermögen zu sehen erstreckt
sich nicht so weit. Gottes Güte reicht so weit der Himmel ist, Ps. 108, 5. Die
Religion treibt uns zur Liebe gegen die Menschen durch Bewegungsgründe an', die
über alle Bewegungsgründe der Vernunft hinaus reichen, Gell. 3) Sich der Dauer,
der Zeit nach erstrecken; ein Gebrauch, welcher im Hochdeutschen zu veralten
anfängt. Die Dreschzeit soll reichen bis zur Weinernte, und die Weinernte
reichen bis zur Zeit der Saat, 3 Mos. 26, 5. 5) * Für liegen, der Himmelsgegend
nach; eine im Hochdeutschen veraltete Bedeutung. Ein Stück von den Theilen, so
vom Morgen bis gen Abend reichen, Ezech. 48, 8. 5) * Für gereichen; eine
gleichfalls veraltete Bedeutung. Das wirt warlich gar zu kleinen Eren reichen
meiner Frauen, Theuerd. Das möchte wol zu schaden dir noch reichen in künftige
Zeit, ebend.
S. Gereichen. II. Als ein Activum, mit Ausstreckung, mit
Ausdehnung in die Länge geben. 1. Eigentlich. Jemanden die Hand reichen.
Jemanden das Handwasser reichen. Er reicht ihm das Wasser nicht, figürlich, er
ist auf seine Art mit ihm zu vergleichen; eigentlich, er ist nicht werth ihm
das Wasser zu reichen. Jemanden hülfliche Hand reichen, ihm beystehen. Jemanden
ein Almosen reichen. Einem Kranken das Abendmahl reichen. Die Mutter reicht dem
Kinde die Brust.
S. auch Darreichen, Hinreichen, Herreichen, Zureichen,
Überreichen, Erreichen u. s. f. 2. Figürlich. 1) Für geben überhaupt;
eine im Hochdeutschen veraltete Bedeutung. Im Oberdeutschen sagt man, Zoll,
Steuern, Ungeld reichen, für geben. Die Kosten zu etwas reichen. Im
Hochdeutschen gebraucht man es noch zuweilen in der R. A. jemanden die nöthige
Nahrung reichen, ihn verpflegen. Die Anzahl der Ziegel sollt ihr reichen, 2
Mos. 5, 18, für liefern, abliefern. 2) Ehedem wurde es auch für hohlen und
hohlen lassen gebraucht. Athem reichen. Athem hohlen. Jemanden reichen, ihn
hohlen lassen. Daher die Reichung, doch nur in der thätigen Bedeutung. Anm. Bey
dem Kero kerehhan, bey dem Notker reichen, bey dem Willeram rachan, im Nieders.
reken und raken, welches [
1039-1040] letztere auch rühren
bedeutet, im Angels. raecan, im Engl. to reach, im Isländ. reikia, im Ital.
recare, im Latein. rigere in porrigere, arrigere, erigere, im Griech.
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hier nichtlateinischer Text, siehe Image - , im Arab. rehaek. Es
ahmet den damit verbundenen Laut nach, und ist mit ragen, regen u. a. m. genau
verwandt. Intensiva davon sind recken uns strecken, wie schon aus der
Verdoppelung des Gaumenlautes erhellet. (
S. Recken.) Mit einem andern Endlaute gehöret auch
rathen hierher, und im Isländ. sind rietta und reikia gleich bedeutend.
S. Gerade und Gerecht, Gerathen und Gereichen.
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1039-1040]