Die Gewalt
Die Gewalt,
[
651-652] plur. inus. außer in einigen
wenigen einzelnen Fällen, die Gewalten, und in Niedersachsen die Gewälter. 1.
Überlegene Macht, Überlegenheit in der Macht. 1) Überhaupt. Pochet nicht so
hoch auf eure Gewalt, Ps. 75, 6. Gewalt geht oft vor Recht. Gewalt, oder mit
Gewalt drohen, drohen, daß man seine überlegene Macht anwenden wolle. Etwas mit
Gewalt wegnehmen. Der Plural ist hier ungewöhnlich, ungeachtet er sich bey dem
Opitz findet:
Der du vor stärkeren Gewalten Den Armen gnädig willt erhalten.
Ingleichen figürlich. Die Gewalt der Beyspiele, die
hinreißende, verführende Kraft derselben. Viele Übel erhalten ihr
niederschlagendes Übergewicht von der Gewalt der Einbildung, Gell.
S. Gewaltsam. 2) Figürlich, unrechtmäßige, unbefugte
Anwendung der überlegenen Macht; Gewaltthätigkeit. Auf eines andern Gebiethe
Gewalt gebrauchen. Man hat es mir mit Gewalt genommen. Für Gewalt kann ich
nicht, ich kann selbige nicht hindern. Einem Gewalt anthun, ihn die
Überlegenheit seiner Macht auf eine unbefugte Art empfinden lassen. Der Neigung
seiner Kinder Gewalt anthun, sie unbefugter Weiße zwingen. Einem Frauenzimmer
Gewalt anthun, es zur Befriedigung seiner Begierden zwingen oder zwingen
wollen. Sich selbst Gewalt anthun, zuweilen auch sich ermorden. Mir geschiehet
Gewalt. Du darfst nur schreyen, wenn dir Gewalt geschiehet. Gewalt! Gewalt! das
gewöhnliche Geschrey in sollen Fällen. In verschiedenen rechtlichen Büchern
stehet die Gewalt mit unter denjenigen Verbrechen; welche vor die Obergerichte
gehören.
S. Gewaltthätig. Vermuthlich gehöret hierher auch
diejenige Bedeutung dieses Wortes, da es in einigen Gerichten, z. B. zu Aachen,
nicht nur von dem unbefugten Außenbleiben vor Gericht, der Contumacia, sondern
auch von der darauf gesetzten Geldstrafe gebraucht wird; da es in dem letztern
Falle auch im Plural die Gewalten vorkommt. 2) Anstrengung oder Anwendung aller
seiner Kräfte zur Überwindung eines Hindernisses; eigentlich der Kräfte des
Leibes, figürlich aber auch zuweilen des Geistes. Eine Thür, ein Haus, ein
Schloß mit Gewalt erbrechen. Gewalt mit Gewalt vertreiben. Sie haben ja diese
Liebe mit Gewalt rege gemacht. Sich Gewalt anthun, seinen Neigungen, seinen
Begierden aus allen Kräften Widerstand leisten. Ich mußte mir die größte Gewalt
anthun, um meine Empfindlichkeit nicht ausbrechen lassen. Ich sahe es, wie
viele Gewalt sie ihrem Herzen anthun. Ich weiß wohl, daß man einem Freunde zu
Gefallen sich auch einmahl Gewalt anthun muß, Gell. Dahin gehören auch die im
gemeinen Leben üblichen Ausdrücke, aus aller Gewalt lachen, schreyen u. s. f.
aus allen Kräften. Er wollte mit aller Gewalt zu mir kommen, durchaus, er
bestand darauf, zu mir zu kommen. Man wollte ihn mit aller Gewalt zu einem
Freygeiste machen. Eine sehr niedrige Figur aber ist es, wenn es von einigen
für eine große Menge gebraucht wird, eine Gewalt Leute, Geld u. s. f.
S. indessen Gewaltig, welches eben in dieser Figur
üblicher ist. 3. Macht, das Vermögen zu thun, was man will; wo es im höchsten
Verstande von diesem Vermögen in allen Fällen, in der Deutschen Bibel einige
Mahl von Gott gebraucht wird, dessen höchste Macht zu bezeichnen, aber zuweilen
auch das Zeugniß von der höchsten Macht Gottes bedeutet, wie 1 Pet. 4, 11.
Unter dem großem Haufen einiger Gegenden wird so wohl der Schlagfluß, als die
Epilepsie die Gewalt Gottes genannt. Im Hochdeutschen gebraucht man es am
häufigsten von diesem Vermögen in einzelnen Fällen. 1) Überhaupt, das Vermögen,
die Befugniß, etwas zu thun oder zu lassen. Das stehet nicht in meiner Gewalt,
ich habe nicht die Macht, das Vermögen, es zu bewerkstelligen. Ich werde thun,
so viel in meiner Gewalt stehet. Du hast Gewalt, zu thun, was du willst. Einem
Gewalt geben, verleihen. Wenig Gewalt haben. Im Oberdeutschen ist es auch für
Vollmacht üblich, und für die Schrift, worin dieselbe ertheilet wird; da denn
auch der Plural die Gewälte gebraucht wird.
S. Gewaltgeber u. s. f. 2) Besonders, das Vermögen,
andern Dingen oder Personen zu gebiethen, für Herrschaft, Bothmäßigkeit. Etwas
in seiner Gewalt haben, in seinem Besitze. Seine Zunge in seiner Gewalt haben,
nichts anders reden, als was man will. Ihr Herz scheint so gänzlich in ihrer
Gewalt zu seyn, daß nicht ein Seufzer es verräth. Eine Sprache in seiner Gewalt
haben, sie völlig verstehen. Die Obrigkeit hat Gewalt über uns. Gewalt tragen,
d. i. haben. Kraft tragender Gewalt, d. i. kraft, vermöge der Gewalt, welche
ich trage, welche mir aufgetragen worden, eine gewöhnliche Formel der
Kanzelleyen. Unter eines Gewalt stehen, Herrschaft. Jemanden unter seine Gewalt
bringen. Die höchste Gewalt, die Majestät, welche keinem Menschen unterworfen
ist. Im Oberdeutschen bedeutete Gewalt ehedem auch das Commando eines
Kriegsheeres oder eines Theiles desselben, die Gewalt eines Befehlshabers,
S. Gewaltig, welches daher einen hohen Befehlshaber
bedeutete. 3) Figürlich, der District, wo man zu gebiethen hat; in welchem
Verstande es doch nur in einigen Gegenden Westphalens vorkommt, wo es die
Gränzen der Burgfreyheit, oder den zu einem Schlosse gehörigen freyen adeligen
Grund und Boden bedeutet. Es lautet alsdann Gewäld, Wälde, Welle, und im Plural
Gewälder, Wälde, Wälder, Weller, welches Wort einige unrichtig von Wald
abgeleitet haben. Anm. Dieses Wort lautet schon bey dem Kero Kiuualtida, im
Isidor Chiuualdi, bey dem Ottfried Giuualt, Walt, bey dem Willeram Geuualt, und
wird so wohl von der Kraft, als auch von der Macht gebraucht. Im Nieders. ist
Wald, Wold, Welde, so wohl die Austrengung der Kraft, als auch
Gewaltthätigkeit, Herrschaft, und Mavht. In eben dieser Mundart bedeutet,
jemanden in ein Gut weldigen, ihn in den Besitz desselben setzen, und ihm etwas
weldigen, es ihm übergeben. Mit dem Deutschen kommen auch das Dän. Gewalt, das
Schwed. Wald, das Angels. Weald und Welde, und das Pohln. Gwalt überein. Im
Oberdeutschen ist es sehr häufig männlichem Geschlechtes. Aller min gewalt,
Kaiser Heinrich. In welchem Geschlechte es auch mehrmahls in der Deutschen
Bibel vorkommt. Rächet den Gewalt an eurem Volke geübt, 1 Macc. 2, 67. Es
gehöret zunächst zu dem Zeitworte walten, stammet aber mit demselben von bald
und wollen ab.
S. dieser Wörter. [
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