Fliehen
Fliehen,
[
207-208] verb. irreg. ich fliehe, du
fliehest oder fliehst, (Oberd. fleuchst), er fliehet oder flieht, (Oberd.
fleucht); Imperf. ich flohe, Conj. ich flöhe; Mittelw. geflohen, Imperat.
fliehe, (Oberd. fleuch;) welches in doppelter Gattung üblich ist. I. Als ein
Neutrum mit dem Hülfsworte seyn, sich schnell und unhörbar von einem Orte
entfernen. 1. Eigentlich, da es gemeiniglich den Nebenbegriff der Furcht bey
sich hat, sich von Furcht getrieben schnell von einem Orte entfernen, in der
edlen Schreibart. So fliehet das Wild bey den Jägern, wenn es die Gefahr
entdecket. Die Soldaten flohen aus der Schlacht. Was überblieb, flohe in das
Gebirge; 1 Mos. 14, 10. In eine Stadt, aus dem Lager fliehen. Den fliehenden
Feind verfolgen. Von der Gefahr fliehen. Voller Furcht floh er in meine Arme.
Alle seine Bedienten sind von ihm geflohen. Fliehe vor der Sünde, wie vor einer
Schlange. 2. Zuweilen verliert sich der Begriff der Furcht, und läßt bloß de
Begriff der Eilfertigkeit zurück. Der Mensch fleucht wie ein Schatten und
bleibet nicht, Hiob. 14, 2. Das Meer sahe und flohe, Ps. 114, 3. Trauren wirs
von ihnen fliehen, Es. 51, 11. Ehre und Gerechtigkeit sind längst aus seinem
Herzen geflohen. In der Stelle beym Gellert:
Er bittet mit den treusten Zähren, Die schamhaft von den
Wangen fliehn,
scheinet es um des Reimes willen zu stehen; wenigstens ist
die Figur ein wenig ungewöhnlich. 3. Figürlich. 1) Durch Empfindung, durch
Leidenschaft getrieben den Ort schnell verändern. Zu einem fliehen, seine
Zuflucht zu ihm nehmen, Schutz, Rath, Hülfe bey ihm suchen. Zum Gebethe
fliehen.
Fall an sein Herz, o Königinn, mit Zähren. Der Freude, fleucht
an seine Brust, Raml.
II. Als ein Activum, sich ernstlich von etwas zu entfernen
suchen, mit der vierten Endung der Person oder Sache, von welcher man sich zu
entfernen sucht, so wohl eigentlich als figürlich. Er fliehet meine Gegenwart,
wo er nur weiß und kann. Die Gefahr fliehen. Ich fliehe dir Gelegenheit ihn zu
sehen. Das Licht, böse Gesellschaft, die Unkosten, die Mühe, die Arbeit
fliehen. Fliehen sie alles, was ihrer Flamme Nahrung gibt. Die Leidenschaft
fliehen, das ist die einzige mögliche Art, sie zu besiegen. Anm. Dieses
Zeitwort lautet bey dem Ulphilas thliuhan, bey dem Kero fliohen, fliohan, bey
dem Ottfried fliahen, im Imperat. fliuh, im Dän. flye, im Engl. to fly, im
Schwed. fly, im Angels. flean. Im Schwed. ist fly schnell, und im Nieders.
welche Mundart dieses Zeitwort nicht hat, ist flojen fließen, fluere.
S. Fliegen, welches bloß eine härtere Aussprache dieses
Zeitwortes ist. Die zweyte und dritte Person du fleuchst, er fleucht, und der
Imperat. fleuch, welche noch in der höhern Schreibart beliebt sind, sind
Überreste einer rauhern Alemannischen Mundart, welche für floh auch im Imperf.
fluch sagt. Ob der Held fluch, Theuerd.
S. auch Flucht und Flüchtig, welche von diesem Zeitworte
herstammen. Die Oberdeutsche Mundart hat noch ein anderes mit diesem genau
verwandtes Zeitwort, welches flehen lautet, das Factitivum von fliehen ist, und
wie unser flüchten gebraucht wird. Seine besten Sachen an einen sichern Ort
flehen. Es gehet an ein Flehen. Man flehet aller Orten. Geflehete Leute.
Geflehete Güter oder Flehgüter. In einigen Gegenden lautet dieses Wort nach
einer andern Form flehenen, oder flehnen.