Dürfen
, verb. irreg. neutr. welches das Hülfswort haben
erfordert. Ich darf, du darfst, er darf, wir dürfen, ihr dürfet oder
dürft, sie dürfen; Conjunct. ich dürfe. Imperf. ich durfte;
Conjunct. ich dürfte. Mittelwort gedurft.1. Sich erkühnen, sich
unterstehen, mit dem Infinitive, ohne zu. Wie darfst du denn sagen? Jer. 2, 23.
Warum darfst du weissagen? Kap. 26, 9. Wer ist dieser, der solches sagen darf?
Judith 5, 25. [
1615-1616]
Noch blähen sie sich auf und dörfen sich erheben Als
jeder, gebe Gott, müßt ihrer Gnade Leben, Opitz.
Im Hochdeutschen ist diese Bedeutung größten Theils
veraltet; doch sagt man noch hin und wieder: und du darfst dich noch
verantworten? Wer bist du, daß du mir solche Dinge sagen darfst? u. s. f.
Er verlästert alle Sachen, Die nicht sein Gehirn
gebiert, Und darf selbst darüber lachen, Wie dein Arm den Scepter
führt, Can.
Besonders kommt diese Bedeutung bey dem Hagedorn sehr oft
vor, vermuthlich, weil dieses Wort bey seiner Kürze für die
Dichtkunst bequemer ist, als die längern Ausdrücke, sich
erkühnen, es wagen u. s. f.
Das Lob nährt seinen Stolz, so wie sein Grimm die
Noth;Mit beyden durfte nur die kühne Mücke scherzen, Haged. Ich sahe
jüngst das Glück, und durft' ihm kühnlich sagen:Bereue deinen
falschen Tand, ebend. Was du am Morgen kaum verliehen, Darfst du am Abend schon
entziehen, ebend.
Diese Bedeutung scheinet die älteste des Wortes
dürfen zu seyn. Das Griech. -
hier nichtlateinischer Text, siehe Image - , das Ulphilanische dauran, das Fränk.
und Alemann. durren und thorren, und noch bey dem Hornegk geturren, das Angels.
dyrran, dearran, das Schwed. töras, das Isländ. thora, das Engl.
dare, das Schottländ. daren, haben eben dieselbe Bedeutung. Im Imperf. und
in einigen Ableitungen nahm dieses Wort ein st an; daher heißt das Imperf.
bey dem Ulphilas gadaursta, im Angels. dorste, im Engl. durst, und im
Fränk. und Alem. gidorste.
S. Durstig. Im Wallis. ist dewr kühn, und im
Isländ. Thör die Kühnheit.
S. Theuer. Das f ist spätern Ursprunges, kommt aber
doch in den folgenden Bedeutungen frühe genug vor. Die Niedersachsen
versetzen das r, und brauchen dräfen, dröven, für dürfen.2.
Macht, Erlaubniß haben, gleichfalls mit dem Infinitive des folgenden
Verbi, ohne zu. Esaias aber darf wohl sagen, Röm. 10, 20. Oder wie darfst
du sagen zu deinem Bruder, halt, ich will dir den Splitter aus deinen Augen
ziehen, Matth. 7, 4. Mache doch, daß er mitgehen darf. Darf ich fragen,
wer er ist? Ein Vater darf wohl wissen, was seiner Tochter Kummer macht. Am
häufigsten aber mit einer Verneinung. Darf ich nicht wissen wer du bist?
Es ist wohl wahr, aber man darf es nur nicht sagen. Daran durften wir nicht
einmahl denken. Oft wird auch der folgende Infinitiv verschwiegen. Ich wollte
wohl, aber ich darf nicht. Sie darf vor der Mutter nicht. Er darf nicht in das
Haus. Kein Fremder darf ohne Paß in die Stadt. Wenn er nur Ein Mahl ja
sagt, so darf er nicht wieder zurück. In dieser Bedeutung kommt so wohl
gidurran, als auch thurfan, schon bey dem Ottfried vor.3. Nöthig haben. 1)
Mit einem Nennworte, so daß dürfen die zweyte oder vierte Endung des
Hauptwortes regieret. Bithiu ni durafun thera sun, daher durften sie keiner
Versöhnung, Ottfr. Uueiz iuuar Fater uuas ir thurftist, euer Vater
weiß, was ihr dürfet, Tatian. Darzu dorfft er ewr hilff und stewr,
Theuerd. Daß sie keiner Hülfe dazu durften, Hiob 30, 13. Wer sie gern
bald hätte, darf nicht viel Mühe, Weish. 6, 15. Die Gesunden
dürfen des Arztes nicht, Luc. 5, 31. Was dürfen wir weiter
Zeugniß? Kap. 22, 71. Was darf Gott eines Starken, Hiob 22, 2. Ich bin
reich und habe gar satt und darf nichts, Offenb. 3, 17.
Der Mensch liebt Gold so sehr,Und darf der Luft noch mehr; Der
Dieb, der dieß bedenkt, Wird selten aufgehenkt, Logau.
In dieser Verbindung ist es im Hochdeutschen veraltet, seit
dem Bedürfen üblicher geworden,
S. dieses Wort. Nur im Oberdeutschen wird es häufig
noch so gebraucht. 2) Mit dem Infinitive, ohne zu; in welcher Verbindung es, in
weiterer Bedeutung, auch im Hochdeutschen überall üblich ist. Du
darfst es mir ja nur sagen; d. i. es ist weiter nichts nöthig, als
daß du mir es sagest. Man wird ihn nur besser berichten dürfen. Man
darf nur sein Vaterland lieben, um die Widerwärtigkeiten mit ihm zu
theilen, Sonnenf. Sie dürfen nur befehlen. Ich habe, gottlob, so viel,
daß ich niemanden ein gutes Wort geben darf. Ich durfte nur erröthen,
so vergabest du mir, durfte nur wünschen, so war mein Wunsch erhöret,
Dusch. Daß ich ihn doch nimmermehr wieder sehen dürfte! Less. In
dieser dritten Bedeutung findet sich thaurban schon bey dem Ulphilas, der in
der zweyten Person auch tharft für du darfst gebraucht. Thes mera ih sagen
nu nit tharf, Ottfr. Das Schwed. töra bedeutet gleichfalls bedürfen.
Darben ist mit diesem dürfen genau verwandt, und scheinet bloß nach
einer andern Mundart gemodelt zu seyn, ob es gleich nur noch in der engsten
Bedeutung von dem Mangel an der Nothdurft üblich ist. Bey dem Kero kommt
auch duruftigan, als Frequentativum von dürfen, für darben, Mangel
leiden, vor.
S. auch Dürftig.4. Ursache haben, gleichfalls mit
dem Infinitive, oder das Wörtchen zu. Darf ich mich auf dich verlassen? Du
darfst dich nicht fürchten. Dürfen wir uns wundern, unglückliche
Männer und Greise zu sehen, wenn die Jünglinge nicht glücklich
waren? Dusch. Er darf sich eben nicht über Überfluß an Vernunft
beklagen. Das hättet ihr eben nicht thun dürfen.5. Wird dieses Verbum
auch gebraucht, wenn ein wahrscheinlicher Erfolg, eine vermuthliche Begebenheit
ausgedruckt werden soll, in welchem Falle es aber nur im Imperfecto Conjunctivi
üblich ist. Man vermuthet, daß dieses erst morgen geschehen
dürfte. Es dürfte ein leichtes seyn, ihn hierher zu bringen. Ich
dürfte nicht König seyn, ich ließe keinen einzigen am Leben. Ich
dürfte bald das Loos nicht verkaufen, weil die Tugend darauf stehet, Gell.
Ich dürfte es bald selbst glauben, ebend. Ich dürfte es bald nicht
annehmen, ebend. Thie ie geboren thorften werthen, heißt es schon in dem
alten Fragmente eines Gedichtes auf den Spanischen Krieg bey dem Schilter. Die
Schweden gebrauchen ihr töra auf eben die Art. Hantör komma, es ist
möglich, daß er kommt. Über die Figur, welche an dieser
Bedeutung Schuld ist, darf man sich eben so wenig wundern, als daß
mögen, können, sollen, auf eine eben so ungewisse Art gebraucht
werden, ungeachtet ihre eigentliche Bedeutung sehr positiv und bestimmt
ist.Anm. 1. Es ist doch merkwürdig, daß diese Wart im Hochdeutschen
nicht in allen den Verbindungen mehr üblich ist, in welchen man es im
Oberdeutschen gebraucht. Auch der Imperativ ist von demselben eben so
ungewöhnlich, als das Participium der gegenwärtigen Zeit
dürfend, obgleich bedürfen dasselbe hat. Die alte Form darren,
durren, ist noch nicht ganz veraltet. In Preußen sagt man jetzt dären
für dürfen, und ich därr für ich darf. In den ersten
Ausgaben von Luthers Deutscher Bibel schrieb er noch beständig ich tar,
für ich darf.Anm. 2. In den meisten Oberdeutschen Gegenden gehet dieses
Wort auf folgende Art: ich darf, du darfst, er darf, wir dörfen, ihr
dörfet, sie dörfen, in Schwaben wir darfen u. s. f. Conj. ich
dörfe. Imperf. ich dorfte; Conj. ich dörfte. Ein
sonderbarer [
1617-1618] Ein fall war es wohl, als sich
jemand einfallen ließ, diese Conjugation auch in das Hochdeutsche
einzuführen.Anm. 3. Da dürfen das Zeitwort jederzeit im Infinitive
ohne zu bey sich hat, so verwandelt es in den zusammen gesetzten Zeiten sein
Mittelwort selbst in den Infinitiv. Du hättest es mir nur sagen
dürfen, für sagen gedurft. Er hat es nicht thun dürfen. Wenn wir
nur die Wahrheit hätten schreiben dürfen. Zwar heißt es ein Mahl
bey dem Opitz: Da keiner sich gedurft des Judenthumes schämen; allein das
ist vermuthlich auf Verleitung des Sylbenmaßes geschehen. Wenn aber der
Infinitiv durch eine Ellipse ausgelassen wird, so tritt auch gedurft in seine
alten Rechte wieder ein. Er wäre gern gekommen, allein er hat nicht
gedurft. Dürfen hat dieses mit wollen, sollen, mögen, können,
hören, sehen, lernen, lassen und noch einigen andern gemein, welche
gleichfalls den bloßen Infinitiv nach sich haben; aber wie man es um
deßwillen für ein Hülfswort ausgeben können, wie von
einigen Sprachlehrern wirklich geschehen, ist nicht zu
begreifen. [
1619-1620]