Übersehen
, [
773-774] verb. irreg. (
S. Sehen.) 1. Übersehen, ich sehe über, übergesehen,
über zu sehen, als ein Neutrum mit haben, über etwas höheres sehen, mit dessen
Verschweigung, wofür doch darüber, hinüber, herüber sehen, richtiger und
anständiger sind. 2. Übersehen, ich übersehe, übersehen, zu übersehen, mit
ausdrücklicher Meldung dessen, worauf sich das Vorwort beziehet, in der vierten
Endung. 1) Über etwas wegsehen, weil man höher gestellet ist, als dieses Etwas,
wo es doch nur in figürlichem Verstande üblich ist. Der Größere übersiehet den
Kleinern, der Reichere den Armen, der Größere hat mehr Macht als der Kleine,
der Reiche mehr Vermögen. Wenn jemand mehr Gelehrsamkeit besitzet, als ein
anderer, so sagt man, er übersehe ihn sehr weit. Dergleichen Kleinigkeiten sind
leicht zu übersehen, ohne beschwerliche Empfindung zu ertragen. Eine solche
Summe kann ich nicht übersehen, nicht ohne Beschwerde entbehren. 2) Über die
ganze Oberfläche eines Dinges hinsehen. (a) Eigentlich, besonders auch, so fern
man höher gestellt ist. Von diesem Berge kann man die ganze Gegend, von diesem
Thurme die ganze Stadt, übersehen. Eine Ebene, welche nicht zu übersehen ist. O
wie reißt das Entzücken mich hin, wenn ich vom hohen Hügel die weit
ausgebreitete Gegend übersehe! Geßn. Auch in weiterer Bedeutung. Du wirst dein
Unglück nicht übersehen können. (b) Figürlich. Etwas übersehen, es flüchtig
durchsehen. In den Küchen übersiehet man den Salat, das Gemüse, wenn man es
durchsiehet, um das untaugliche auszulesen. Eine Rechnung, eine Arbeit
übersehen, sie durchgehen, durchsehen, ob sie richtig sey. Die Probebogen der
Druckerey übersehen, ob sie richtig sind. Eine Schrift übersehen, so wohl sie
flüchtig durchlesen, als auch sie durchlesen, um sie zu verbessern; in welchem
Verstande auch einige das Hauptwort Übersicht gebrauchen, (
S. dasselbe.) Seine Lection übersehen, sie durchlesen,
um sie zu lernen. Nach einer noch weitern Figur bedeutete es ehedem auch die
Aufsicht über etwas haben, wie noch das Engl. oversee, in welchem Verstande es
aber im Hochdeutschen veraltet ist. 3) Über etwas wegsehen, ohne es gewahr zu
werden, etwas nicht sehen, was man doch sehen konnte oder wollte. (a)
Eigentlich, so fern es aus Übereilung oder Mangel der Aufmerksamkeit
geschiehet. Das habe ich übersehen, bin ich nicht gewahr geworden. Im Lesen
zwey Zeilen übersehen. In der Zählung mehrerer Dinge drey Stücke übersehen. (b)
Figürlich. (1) Arme Personen werden immer übersehen, nicht geachtet, man
bezeiget seine Aufmerksamkeit nicht für sie. Darum, daß ihre Witwen übersehen
wurden in der täglichen Handreichung, Apost. 6, 1; übergangen wurden. (2) Etwas
übersehen, thun, als wenn man es nicht sähe, es nicht merken lassen, daß man es
wahrgenommen habe, besonders Fehler und Vergehen, sie ungeahndet lassen. Gott
hat die Zeit der Unwissenheit übersehen, Apostelg. 17, 30. Ich habe ihm viel
übersehen, werde ihm aber künftig nichts mehr übersehen. Wenn sie nur ein gutes
Herz hat, so will ich ihr die Unrichtigkeit in ihren Meinungen gern übersehen,
Gell. Ein Fehler des äußerlichen Wohlstandes wird an dem Kinde oft hart
bestraft, und eine feine Unwahrheit übersieht man ihm, ebend. Mit der dritten
Endung der Person und der Verschweigung der vierten Endung der Sache ist es
veraltet. Ich will meinem Volk Israel nicht mehr übersehen, Amos 6, 8. Kap. 8,
2; wofür nachsehen üblicher ist. (3) Ehedem sagte man auch, jemanden übersehen,
ihn verschonen, seiner schonen, welche Bedeutung aber im Hochdeutschen veraltet
ist. Das Hauptwort die Übersehung ist nur in einigen Fällen üblich,
S. auch Übersicht. [
775-776]