Sollen
, [
131-132] verb. reg. neutr. ich soll, du
sollst (nicht sollt), er soll u. s. f. Imperf. ich sollte; Mittelw. gesollt. Es
erfordert das Hülfswort haben, und bedeutet überhaupt, zu etwas verbunden seyn,
wird aber in verschiedenen Bedeutungen gebraucht. 1. Durch eine Pflicht oder
Schuldigkeit zu etwas verbunden seyn oder werden. (1) Überhaupt. Ein anderer
karget, da es nicht soll, Sprichw. 11, 24. Sprichw. Wenn wir thäten, was wir
sollten, so thäte Gott, was wir wollten. Besonders im Conjunctivo. Du solltest
es billig thun. Ich sollte wohl schreiben. Solche Leute sollte man strafen. Sie
sollten sich schämen. Du hättest früher aufstehen sollen. Wie sorgfältig sollte
man seyn, den Fehler in seiner ersten Geburt zu bestrafen! Gell.
Der Schlaue hätts nicht thun, und dus nicht glauben sollen,
eben ders.
(2) In engerer Bedeutung, zur Bezahlung einer Schuld
verpflichtet seyn; im gemeinen Leben. Cajus soll mir noch hundert Thaler, d. i.
ist sie mir schuldig.
Wer mir funfzig Gülden soll, waget zwanzig Gülden dran, Daß er
meine Zahlung mir länger noch verzögern kann, Logau. Wer treu bey Hofe dienet,
verdient doch lauter Haß. Warum? wem man viel soll, diesem wird man blaß, eben
ders.
Im Hochdeutschen ist es bey den Kaufleuten in Rechnungen und
Rechnungsbüchern am üblichsten, wo es dem haben entgegen gesetzet wird. Cajus
soll, d. i. ist schuldig. 2. Durch die Billigkeit zu etwas verbunden seyn, doch
nur im Conjunctivo. Du hättest schreiben sollen. Dieß hätte man nicht übersehen
sollen. Verzagen sollte nur der Zustand feiger Seelen seyn. 3. Durch einen
ausdrücklichen Befehl eines andern verbunden seyn oder werden. (1) Eigentlich,
wo es in solchen Fällen gebraucht wird, wo der andere zu befehlen hat. Du sollt
(sollst) keine andere Götter haben, 2 Mos. 20, 3. Ihr sollt heilig seyn, 3 Mos
19, 2. Sie besteht darauf, ich soll heute wieder nach Hause, Gell. Da es denn
auch oft in solchen Fällen gebraucht wird, wo der Befehlende verschwiegen, oder
unbestimmt gelassen wird. Es soll geheirathet seyn. Wenn es denn ja seyn soll.
Es hat nicht seyn sollen. Oft wird das Zeitwort, welches die aus dem Befehle
entspringende Verbindlichkeit bestimmt, verschwiegen, da denn sollen mit
allerley Vor- und Nebenwörtern elliptisch stehet. Was soll ich hier? nämlich
machen, thun. Was soll ich? Was soll ich in der Stadt? nämlich machen, thun.
Ich weiß nicht was wir sollen. Es soll hinaus. Er soll fort. (2) In weiterer
Bedeutung, durch den bestimmtem Willen eines andern verpflichtet oder verbunden
seyn; auch nur in solchen Fällen, wo der andere berechtigt ist, bestimmt zu
wollen. Es soll noch heute geschehen. Da soll schon Rath werden. Nein, ich
verlange nichts, du sollst mir nur verzeihn, Gell. Recht, als ob er der Himmel
so hätte haben wollen, daß ich hinter ihre Schliche kommen sollte, Gell. Sie
sollen es schon bekommen. Wo gleichfalls der Wollende oft unbestimmt bleibt,
der zuweilen in den jedesmahligen Umständen u. s. f. zu suchen ist. Was soll
ich sagen? Wem soll ich es anvertrauen? Wem soll man nun glauben? Soll ich
unsere Vereinigung mit Sorgen für die Zukunft anfangen?
Die, wenn von Wein und Liebe voll, Ein Gast zu viel begehret,
Und sie doch etwas missen soll, Am liebsten Band entbehret, Raml.
Es ist lustig, zwo Personen zu sehen, die nicht wissen, was
sie sich sagen sollen. Sie wußten nicht, wie sie sich verhalten
[
133-134] sollten. Das soll er wohl bleiben lassen, das
darf er nicht thun, ingleichen das ist ihm unmöglich. Aber wie soll man ihm
helfen? Oft auch in der Absicht, in dem Endzwecke. Man muß mich rufen, wenn ich
kommen soll. Sie muß durch Güte gewonnen werden, wenn ihr Schwur unkräftig
werden soll, Dusch. Ingleichen in der Bestimmung, da es denn oft in noch
weiterm Verstande so viel als nützen, helfen, bedeutet. Thue die Stücke darein,
die hinein sollen, Ezech. 24, 4. Was sollen die sieben Lämmer? 1 Mos. 21, 29;
wozu sind sie bestimmt. Was soll doch dieser Unrath? Marc. 14, 4. Herr, was
soll aber dieser? Joh. 21, 21. Wozu soll diese Erniedrigung? nähmlich dienen.
Was soll das Geschwätz? Liebe Chloe, was sollen diese Kränze? Geßn. Die Person,
für welche etwas bestimmt ist, oder welcher es nützen soll, bekommt das Vorwort
für, noch häufiger aber die dritte Endung. Sie sollen alle für mein Haus, sie
sind für mein Haus bestimmt. Die Esel sollen für das Gesinde, 1 Sam. 16, 2. Was
soll mir die Erstgeburt? nämlich helfen, nützen, 1 Mos. 25. 32. Was soll mir
das Leben? Kap. 27, 46. Wem soll denn dieser Staus? Gell. für wen ist er
bestimmt? Was soll mir das Gold? Geßn. nähmlich nützen. (3) Figürlich. (a) Oft
wird es im gebietherisch lehrenden Tone gebraucht, in welchem Falle auch müssen
üblich ist. Sie sollen wissen, daß die Sache sich nicht so verhält. (b) Oft
gebraucht man es, wenn man eine Sache als wahr, als richtig auf eine Zeitlang
zugibt, ohne vor ihrer Wahrheit oder Richtigkeit überzeugt zu seyn. Sie sollen
Recht haben, lassen sie mich nur in Ruhe, Gell. Sie sollen mich nicht
beleidiget haben, ebend. ich will annehmen, zugeben, daß sie mich nicht
beleidiget haben. Ingleichen, wenn man will, daß ein Ding das andere auf eine
Zeit lang vorstelle.
Dieß hier bin ich, und dieß soll meine Chloris seyn? Gell.
4. Sehr oft dienet es im Conjunctiv zur Einkleidung eines
möglichen Falles. Wenn er morgen sterben sollte. Wenn ich es ja nicht wieder
bekommen sollte. Sollte er ihm begegnen.
Wie, soll es dich vielleicht gereun, Bey mir hier eingesperrt
zu seyn? Weiße.
Sollte ich meinen besten Freund darüber verlieren. Schade,
sprach er, solltest du Baum in dieß wilde Wasser stürzen? Geßn. So auch in
Fragen. Sollte es möglich seyn? Sollte der Stolz nicht ein Unkraut seyn, das
von einem Feinde der menschlichen Natur auf unser Herz gesäet worden? Gell.
Gott sollte ich nicht bewundern, nicht über alles lieben, da er nichts wollen
kann, als meine Wohlfahrt? eben ders. Wie lange sollte deine Blüthe und seine
Schönheit diese Blumen wohl noch überleben? Dusch. Oft hat es den Nebenbegriff
eines deutlichen oder versteckten Wunsches einer möglichen Sache. O, wenn ein
Monarch nur eine Wunde meines Mutterherzens fühlen sollte! Ach, wenn sie wissen
sollten, wie viel es mich gekostet hat? Wenn sie nur die Gewalt hätten sehen
sollen, die sie ihrem Herzen anthat; Gell. für, gesehen hätten. Wenn sie sie
nur hätten sollen reden hören, eben ders. Wenn du wissen solltest, wie viel
Gutes man mir von ihm erzählet hat! O, hätt' ichs nur verstehen sollen!
Doch, wenn ich die Natur nur einmahl recht verstehen sollte,
Und was ein Irrlicht sagen wollte, Gell.
Wohin denn auch gehöret, wenn es zum Ausdrucke des Modi
potentialis gebraucht wird. Ehe er wider die Ehrfurcht gegen Gott handeln
sollte, wird er lieber sein Leben verlieren, Gell.
[
133-134]
Und wenn du mir gleich jetzt die Herde schenken wolltest, So
glaube, daß du mir doch nicht bereden solltest, Rost.
Der reiche Wollüstige, welcher viel zu satt ist, als daß er
an Gott denken sollte. Mir hätte er nicht so kommen sollen. Man sollte glauben,
ich sollte denken u. s. f. druckt oft einen hohen Grad der wahrscheinlichen
Gründe aus, etwas zu glauben, oder zu denken. Bald sollte ich glauben, daß sie
es nicht ist.
Allein die Schere, sollt ich glauben, Die könnten sie mir wohl
erlauben, Gell.
Man sollte darauf schwören, es sey alles wahr, was sie sage,
Weiße. Das ist wohlfeil, sollt ich meinen, Wiel. 5. * In einigen gemeinen
Mundarten, so wohl Ober- als Niederdeutschlandes wird es häufig für wollen
gebraucht, eigentlich durch seinen eigenen Willen zu etwas bestimmt werden,
verbunden seyn. Theuerdank sprach, ich euch folgen soll, Kap. 56.
Der Diener merkt den Befehl wol, Sprach, Herr, ich der Sach
recht thun sol, Kap. 58. Diesen Man ich recht führen sol, Das er sol wider
khomen nit, Kap. 66.
Auf welche Art es auch nicht nur in einigen Niederdeutschen
Gegenden, sondern auch in einigen nördlichen Sprachen gebraucht wird, im
Hochdeutschen aber unbekannt ist. 6. Eben so wird es zuweilen auch für werden
gebraucht, das Futurum eines andern Zeitwortes zu bilden, und zwar, (1) Mit dem
Nebenbegriffe eines geschehenen Versprechens, einer Bestimmung, wo es doch
zunächst zu der vorigen dritten Bedeutung gehöret. Ich soll es wieder bekommen.
Figürlich bedeutet die R. A. ich soll es noch wieder bekommen, nicht mehr, als
ich habe es bisher noch nicht wieder bekommen. So auch, ich soll ihn noch
sehen, ich habe ihn nicht wieder gesehen. Ich soll ja noch hören, daß er
versprochen ist, Less. ich habe es noch nicht gehöret. Ich soll mein Geld noch
wieder haben, u. s. f. (2) Ingleichen mit dem Nebenbegriffe des in einem
Befehl, in einem bestimmten Willen, so wohl unserer selbst, als anderer
gegründeten künftigen Erfolges. Ich hoffe, er soll mir nicht wieder kommen.
Unsere Trennung soll nicht lange mehr dauern. (3) * In noch weiterm Verstande
gebrauchen die Niederdeutschen, und unter ihnen besonders die Holländer, die
Schweden, die Engländer u. s. f. es überhaupt als den Ausdruck eines
zukünftigen eines Erfolges für werden; in welche Bedeutung aber es den
Hochdeutschen unbekannt ist. Ich soll kommen, ich werde kommen. Daher war bey
den ältern Schweden Skuld, die Zukunft, das Zukünftige. 7. In einigen Fällen
begleitet es auch eine in unserer bloßen Vermuthung gegründete Begebenheit, wo
es wohl von künftigen, als vergangenen Dingen gebraucht wird. Ich hoffe noch
immer die Nachricht soll sich nicht bestätigen. Mich däucht, ich soll ihn
irgendwo gesehen haben. Noch häufiger wird es gebraucht, einen Vorgang zu
bezeichnen, welcher in einem bloßen Gerückte gegründet ist. Der Kaiser soll
gestorben seyn, man sagt, man will, der Kaiser sey, gestorben. Die Türken
sollen geschlagen seyn, oder, es sollen die Türken geschlagen seyn. Ich soll
mein Julchen hintergangen haben, Gell.
Ein Jüngling, welcher viel von einer Stadt gehört, In der der
Segen wohnen sollte, eben ders.
Daher das Sollen, welches doch nur in wenig Fällen gebraucht
wird. Anm. 1. Dieses Zeitwort setzt in den meisten Fällen einen Befehl, einen
bestimmten Willen voraus, sollte es auch nur der Wille des Verhängnisses, der
Umstände, der Absicht u. s. f. seyn, und unterscheidet sich dadurch hinlänglich
von müssen. Im gemeinen Leben und der vertraulichen Sprechart wird es oft
überflüssig ge- [
135-136] braucht. Ich will doch nicht
hoffen, daß sie ein heimlicher Verächter des Geldes seyn sollen, für seyn
werden oder sind. Es hat gemeiniglich, die elliptischen Fälle ausgenommen, ein
anderes Zeitwort bey sich, welches allemahl in Infinitiv stehet. Wenn sollen in
diesem Falle in einem zusammen gesetzten Tempore stehet, so tritt es nach dem
Muster des Zeitwortes dürfen, mögen, sehen, hören u. s. f. selbst in den
Infinitiv. Du hättest es thun sollen, nicht, du hättest es thun gesollt. Ist
aber kein Infinitiv dabey, so folgt es der gewöhnlichen Form. Ich habe gesollt.
Das Plusquamperfectum Conjunctivi kann auf doppelte Art ausgedruckt werden.
Für, du hättest es thun sollen, kann man auch unbeschadet des Sinnes und des
Wohlklanges sagen, du solltest es gethan haben. Weil dieses Zeitwort sehr
häufig gebraucht wird, Modos und Tempora anderer Zeitwort zu bilden, welche die
Lateinische Sprache mit Einem Worte durch bloße Abänderung der Endung
ausdrucket, so haben es viele Sprachlehrer unter die Hülfsworte gesetzt,
welchem Nahmen man ihm denn in manchen seiner Bedeutungen nicht absprechen
kann. Freylich würden wir alsdann eine große Menge Hülfswörter annehmen müssen,
wie von vielen Sprechlehrern auch wirklich geschehen ist, welche wollen,
können, dürfen, mögen, müssen, lassen, u. s. f. dahin rechnen. Allein es
erhellet daraus nur so viel, daß der Begriff, welchen unsere Sprachlehrer von
den Hülfswörtern hatten, sehr schwankend war, und durch den Unterschied in
eigentliche und uneigentliche Hülfswörter, welcher im Grunde so viel wie nichts
sagt, nicht bestimmter wird. Wir könnten die ganze Lehre von den Hülfswörtern
völlig entbehren, wenn nicht unsere Sprechlehrer es sich noch immer zur Pflicht
machen, die Deutsche Sprachkunst mehr nach der Lateinischen, als nach dem
eigenthümlichen Genie der Deutschen Sprache zu bilden. Der Imperativ ist von
diesem Zeitworte seiner Natur nach eben so wenig üblich, als die Mittelwörter
in der adjectivischen Form gebraucht werden können. In den Oberdeutschen
Kanzelleyen sagt man zwar, der seyn sollende Bürgermeister, der so genannte
Bürgermeister, der gesollte Lohn, der bestimmte, schuldige Lohn; aber wer wird
ihnen darin nachfolgen? Anm. 2. Unser sollen, und das Engl. shall, verrathen
durch das verdoppelte ll ein Intensivum, dessen einfacheres Zeitwort solen,
salen, lautete. Das Niederdeutsche schölen ist aus beyden zusammen gesetzt, und
gehet daher irregulär; Präs. ik schall, du schast, he schall; Imperf. ik
scholde; Infinit. schölen. Das einfachere Stammwort ist sehr alt, und lautet
schon bey dem Ulphilas skal, bey dem Kero scolan, bey dem Ottfried sculen, im
Schwed. skola. Mir einem andern Endlaute sagte man ehedem auch sonen für
sollen, und in der alten Zürchischen Mundart sun. Da der Begriff dieses Wortes
sehr abstract ist, so ist, auch dessen Abstammung und eigentliche Bedeutung
ungewiß. In der ersten Bedeutung ist die Verwandtschaft mit Schuld sehr
scheinbar, welche Scheinbarkeit aber bey einer nähern Untersuchung
verschwindet,
S. Schuld Anm. [
135-136]