Nüchtern
, [
535-536] -er, -ste, adj. et adv. 1. Der
denselben Tag noch nicht gegessen und getrunken, und in engerer Bedeutung noch
nicht gegessen hat. 1) Eigentlich. Noch nüchtern seyn. Nüchtern trinken, ehe
man etwas gegessen hat. Etwas in den nüchternen Magen hinein trinken.
Nüchterner Speichel, welchen man des Morgens, ehe man noch etwas zu sich
genommen hat, auswirft. 2) Figürlich ist nüchtern oft im gemeinen Leben so viel
wie abgeschmackt, unschmackhaft. Das Fleisch schmeckt so nüchtern. Ein
nüchterner Einfall. Ein nüchternes Gedicht. Das klingt so nüchtern. 2. In
engerer Bedeutung ist nüchtern dem betrunken entgegen gesetzt. 1) Eigentlich,
sich seiner und andrer Dinge außer sich nach vorher gegangener Trunkenheit
wieder völlig bewußt; wo es in Gestalt eines Nebenwortes am üblichsten ist.
Wieder nüchtern werden, wofür man auch sagt ausnüchtern. Nie nüchtern werden,
beständig betrunken seyn. 2) Figürlich, sich seines gegenwärtigen Zustandes
recht bewußt, im Gegensatze des Taumels der Leidenschaften, Gegenwart des
Gemüthes besitzend, in Absicht auf die Unterdrückung der Leidenschaften. Werdet
doch einmahl recht nüchtern und sündigt nicht, 1 Cor. 15, 34. Lasset uns
wachsen und nüchtern seyn, 1 Thess. 5, 6. Von einer Leidenschaft, oder nach
derselben wieder nüchtern werden, zu sich selbst kommen. So lange seine Sinnen
noch nüchtern und gleichgültig sind. 3. In weiterer und figürlicherer Bedeutung
ist nüchtern Mäßigkeit im Essen und Trinken beobachtend, und darin gegründet.
Ein nüchternes Leben führen. Am häufigsten als ein Nebenwort. Nüchtern leben.
Anm. Schon bey dem Notker in der ersten Bedeutung nuchtarnin, im
Schwabenspiegel ohne n am Ende nuhter, in einem alten Vocabulario aus dem 15ten
Jahrhunderte nucther, im Nieders. nogtern, im Schwed. nyckter. Frisch leitet es
von dem Latein. nocturnus her; aber warum nicht lieber von dem Deutschen Nacht,
oder vielmehr von dem noch jetzt Holländ. und Nie- ders. Nucht, Ucht, die frühe
Morgenzeit? Die Sylbe -er ist eine sehr gewöhnliche Ableitungssylbe, welche in
vielen Fällen ein n nachschleichen lässet, wie in albern, eisern, ehern,
ströhern, u. s. f. Nüchtern hat also eigentlich morgendlich bedeutet, und
figürlich, des Morgens noch ungegessen. Bey dem Notker kommt nohturna wirklich
noch für nächtlich vor. Die Angelsachsen umschrieben diesen Begriff, und
nannten einen nüchternen Menschen onnihtnestig, von on, nicht, niht, frühe, und
nest, Speise, Nahrung, und Ihre zu Folge, ist das Schwed. nyckter und unser
nüchtern eine bloße Zusammenziehung dieses Ausdruckes. Opitzens nüchterlich für
nüchtern ist im Hochdeutschen veraltet. [
535-536]