Nehmen
, [
457-458] verb. irreg. ich nehme, du
nimmst, er nimmt, Conj. ich nehme; Imperf. ich nahm, Conj. ich nähme; Mittelw.
genommen; Imperat. nimm. Es ist auf gedoppelte Art üblich. I. Als ein Neutrum,
mit dem Hülfsworte haben, in einen Zustand versetzet werden; in welcher
Bedeutung es eine Figur des folgenden Activi ist, aber nur in einigen wenigen
Fällen gebraucht wird. Überhand nehmen, sich ausbreiten, das Übergewicht
bekommen. Schaden nehmen, einen Schaden, Nachtheil erleiden; besonders in
engerer Bedeutung von einer körperlichen Beschädigung oder Verletzung, in
welchem Falle man von Personen auch sagt, zu Schaden kommen. Das Kind fiel die
Treppe hinunter, nahm aber keinen Schaden, wurde nicht beschädiget. Einen
Anfang nehmen, angefangen werden; ein Ende nehmen, aufhören. Wenn wird meine
Qual ein Ende nehmen? Die Sache hat eine gute, glückliche, schlechte,
unglückliche Wendung genommen; bekommen. Hierher gehöret auch die unpersönliche
oder doch nur in der dritten Person übliche R. A. es nimmt mich Wunder, es
wundert mich, die Sache nimmt mich Wunder, wundert mich, welche Frisch als eine
Nachahmung des Zeitwortes capere im Latein. ansiehet; quae te dementia cepit,
capit me admiratio. Dem sey wie ihm wolle, so ist sie schon alt. Iuh ne tharf
is ne nehein Wunder nehmen, in dem alten Fragmente auf Carln den Großen bey dem
Schilter. Des nam die Haiden Wunde, Stryker. Des nam vil dickch wunder vil
manigen chomenden gast, Horn. Es nimpt mich wunder, daß u. s. f. Theuerd. Kap.
33. So nimmt michs nicht Wunder, Gell. Das sollte mich sehr Wunder nehmen. Was
mich dabey sehr Wunder nahm. Dieses hat viele Wunder genommen. Das darf dich
nicht Wunder nehmen. Auf eben die Art sagt man dafür auch, es hat mich Wunder,
und im Theuerdanke kommt nehmen in diesem Verstande auch persönlich vor: die
schifleut darab wunder nahmen, Kap. 72; auf welche Art es aber im Hochdeutschen
veraltet ist. II. Als ein Activum, wo es in einem sehr weiten Umfange von
Bedeutungen üblich ist, und eine Sache sich oder einem Theile seines Körpers
nahe bringen bedeutet. 1. Eigentlich, wo es sich weiter erstreckt als fassen,
indem dieses eine Hand, oder anderes zangenartiges Glied voraus setzet, womit
eine Sache gefasset wird, nehmen aber von allen Gliedern und Theilen des Leibes
gebraucht werden kann. Man nimmt etwas in die Hand, mit der Hand; man nimmt
aber auch etwas auf den Kopf, auf den Rücken, auf die Achsel u. s. f. wenn
gleich keine Hand dabey gebraucht wird. Das Glas von dem Tische, das Geld aus
der Tasche nehmen. Jemanden etwas aus der Hand nehmen. Ein Ding in den Mund
nehmen. Jemanden bey der Hand nehmen, ihn freundschaftlich und sanft an die
Hand fassen; dagegen jemanden bey dem Kopfe nehmen mehr Ungestüm voraus setzt,
und auch figürlich für in Verhaft nehmen gebraucht wird. Eine Person in den
Arm, ein Kind auf den Arm nehmen. Kein Blatt vor den Mund (im gemeinen Leben
vor das Maul) nehmen, freymüthig reden und urtheilen Ich nehme sie beym Worte,
ich halte mich an ihr Wort. Sich viel heraus nehmen, figürlich sich viele
Freyheit anmaßen. Eine Last auf den Rücken nehmen. Eine Sache auf sich nehmen,
sich anheischig machen, sie auszuführen, sie zu verantworten. Das nehme ich auf
mich. Das will ich schon über mich nehmen, es zu verantworten. Wohin denn eine
große Menge ähnlicher Arten der Ausdrücke gehöret, wo nehmen eine Art des nahe
bringens und oft auch des zu eigen machens bedeutet, und wo die ganze R. A.
bald eigentlich, bald aber auch figürlich genommen werden muß. Speise und Trank
zu sich nehmen, genießen. Ich habe heute noch nichts zu mir genommen, noch
nichts genossen. Arzeney nehmen oder einnehmen. Etwas in Empfang nehmen. Etwas
zu sich nehmen, es zu sich stecken. Nehmen sie das Geld zu sich. Vergiß das
Obst, das du zu dir genommen, Gell. Jemanden in die Mitte nehmen. Das Werk vor
die Hand nehmen. Etwas in die Arbeit nehmen; in der niedrigen Sprechart, es in
die Mache nehmen. Einem das Wort aus dem Munde nehmen, eben das sagen, was der
andere sagen wollte. Jemanden zu sich in den Wagen nehmen, ihn in seinem Wagen
sitzen lassen. Jemanden zu sich in das Haus nehmen, ihn in demselben wohnen,
sich aufhalten lassen, in weitesten Verstande, ohne Bestimmung der Zeitdauer
oder der Art und Weise. So auch, jemanden zu sich an den Tisch nehmen. Jemanden
in seinen Schutz nehmen. Sich Zeit zu etwas nehmen. Sich Bedenkzeit nehmen. Man
muß die Gelegenheit nehmen, (nutzen, gebrauchen,) wenn sie da ist. Eine Weise,
eine Gewohnheit an sich nehmen. Ein Gut in Pacht nehmen. Sich die Freyheit
nehmen. Etwas in Besitz nehmen. Die Post nehmen, mit Extrapost reisen. Wie viel
nimmt er des Tages für eine Arbeit? wie viel läßt er sich dafür bezahlen? Einen
Eid von jemanden nehmen, ihn solchen ablegen lassen. Seinen Sitz oben annehmen,
die Oberstelle nehmen. Seinen Befehl, einen Entschluß zurück nehmen. Frische
Pferde nehmen, sich geben lassen. Ein Gut in Leben nehmen. Ich wollte nicht
viel nehmen und sie stören, Gell. nicht viel Geld. Nimm dir wieder einen
Sprachmeister, Gell. [
459-460] In engerer Bedeutung, ist
Geld nehmen, sich bestechen lassen, dagegen man in weiterer von einer
Geldsorte, welche nicht gäng und gebe ist, sagt, dieß Geld wird hier nicht
genommen. Man siehet hieraus, daß nehmen ein sehr unbestimmtes Wort ist,
welches nur überhaupt ein nahe bringen bezeichnet, die Art und Weise aber
völlig unentschieden lässet, welche denn entweder durch Beysätze bestimmt wird,
oder auch durch den Gebrauch fest gesetzet worden. Zu der letztern Art gehören
noch folgende Fälle. 1. Eine Frau nehmen, einen Mann nehmen, sie oder ihn
heirathen; in welcher Bedeutung auch nehmen im gemeinen Leben allein gebraucht
wird. Sie will ihn nicht nehmen, hat keine Neigung, ihn zu heirathen. Wenn sie
dir gefällt, so nimm sie. Zu Ehe nehmen. 2. Mit dem Nebenbegriffe der Gewalt,
auf eine gewaltthätige Art sich nahe bringen, und in weiterer Bedeutung, sich
eigen machen. Er läßt sich nichts nehmen. Die Feinde haben ihm alles genommen.
Jemanden ein Amt, ihm das Leben nehmen. Der Dieb nimmt, was er findet. Jemanden
das Seine nehmen. Jemanden gefangen nehmen. Das nimmt der Sache nichts, schadet
ihr nichts.
O sage, wie es immer kam, Daß man dir deine Freyheit nahm!
Gell.
2. Figürlich, wo es in sehr vielen Fällen gebraucht wird,
allerley tätige Veränderungen zu bezeichnen. 1) Überhaupt. Die Flucht nehmen,
ergreifen, fliehen. Seine Zuflucht zu jemanden nehmen. Urlaub nehmen, Abschied
nehmen, gute Nacht nehmen. Und nahmen höflich gute Nacht, Gell. Sein Nachtlager
an einem Orte nehmen. Ein Herz nehmen, im Oberdeutschen, für fassen. Das Maß zu
etwas nehmen. Sich die Mühe nehmen. Ich nehme mir die Mühe nicht. Theil,
Antheil an etwas nehmen. Ich nehme an eurem Glücke den aufrichtigen Antheil,
Weiße. Den Weg wohin nehmen, sich dahin wenden. Einen großen Umweg nehmen.
Nicht Umgang nehmen können, nicht umhin können. Ein Exempel, ein Beispiel an
etwas nehmen, es sich zu einem Beyspiele dienen lassen. Eine Abschrift von
etwas nehmen, verfertigen, oder verfertigen lassen. Die Polhöhe, die
Sonnenhöhe, die Höhe eines Sternes nehmen, messen. Mit etwas für lieb nehmen,
es sich gefallen lassen. (
S. Lieb.) Sich in Acht nehmen, sich hüthen. Etwas in
Acht nehmen, es gewahr werden, bemerken. Eine Sache in Acht nehmen, sie vor
Schaden, Verlust, Verletzung sorgfältig bewahren. Seine Absicht auf etwas
nehmen. Anstand nehmen. Sie nehmen die Sache sehr genau. Mit dir wird es so
genau nicht genommen. Cajus nahm hier das Wort, setzte hier die Rede, das
Gespräch fort. Und so in vielen andern Fällen mehr, welche aus dem Gebrauche
erlernet werden müssen. 2) Besonders. (a) Sich betragen; eine nur in einigen
Provinzen übliche Bedeutung, welche im Hochdeutschen unbekannt ist. Wer weiß,
wie albern sie sich dabey genommen hat, Less. Ich hätte mich noch wohl anders
dabey nehmen können. ebend. (b) Oft wird es auch von Empfindungen, ingleichen
von verschiedenen Wirkungen des Gemüthes und der Seele gebraucht. aa) Etwas zu
Ohren nehmen, eine biblische, im Hochdeutschen veraltete R. A. für hören. Höret
ihr Himmel, und Erde, nimm zu Ohren, den der Herr redet, Es 1, 2. (
S. Vernehmen,) welches noch in diesem Verstande üblich
ist. bb) Etwas zu Herzen nehmen, davon mit Einfluß auf den Willen gerühret
werden. Jemandes klägliche Umstände zu Herzen nehmen. cc) Auslegen, ausdeuten.
Etwas übel nehmen, es übel auslegen, mit Empfindungen des Unrechtes. Nehmen sie
mir es nicht übel. Ein Wort in einem andern Verstande nehmen. Ja, wenn wir
[
459-460] es so nehmen, so auslegen. Wie mans nehmen
will. dd) Dafür halten. Er nimmt seine Gelassenheit für Feigheit.
Nimm für den Dichtertrieb nicht Leichtigkeit zu reimen,
Kästner.
aa) Betrachten; doch nur in einigen Fällen. Ich mag es nehmen
wie ich will. Die Sache ist im Ganzen genommen nützlich. Er würde es vielleicht
auf einen viel ernsthaftern Fuß nehmen, Schleg. bb) Daraus kann ich mir nichts
nehmen, ich finde darin nichts, welches ich nutzen, auf mich anwenden könnte.
Was soll ich mir aus alle dem nehmen? Anm. Bey dem Kero neman, im Tatian und
bey dem Ottfried niman, im Nieders. nemen, im Angels. und bey dem Ulphilas
niman, im Isländ. nima, im Schwed. nama, im Lettischen nemu. Das Latein emere,
welches sich bloß durch den Mangel des zufälligen N unterscheidet, (
S. N,) bedeutete ehedem auch nehmen, wie im Deutschen
nehmen mehrmahls für kaufen gebraucht wird. Daß auch im Griech. ein Zeitwort
-
hier nichtlateinischer Text, siehe Image - für nehmen üblich gewesen
seyn müsse, erhellet aus dem zusammen gesetzten -
hier nichtlateinischer
Text, siehe Image - ; ein Erbnehmer, d. i. Erbe, schon bey dem Ulphilas
Arbinumja. Wachter leitet es vom Isländ. nefi, die Hand, und neawen, zusammen
ziehen, Frisch aber von dem Latein emere her. Allein, es scheinet mit mehrerm
Rechte zu nahe zu gehören, da es sich doch in allen seinen Bedeutungen durch
nahe bringen und nahen erklären lässet, zumahl da Wachters neawen auch davon
abstammet. Nehmen stehet vermittelst der intensiven Endung men für nahemen,
zusammen gezogen nehmen. Unser Hochdeutsches Zeitwort ist aus zwey
verschiedenen Mundarten zusammen gesetzt. Im Oberdeutschen sagt man für ich
nehme noch ich nimm, und in Schlesien im Imperativo nihm für nimm.
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459-460]