Die Gnade
Die Gnade,
[
735-736] plur. inus. in einigen Fällen,
besonders im gemeinen Leben, plur. die Gnaden, sing. inus. ein Wort, welches
von nahe, nahen, nieder und neigen abstammet, und ehedem die Neigung im
eigentlichen Verstande bedeutete. Daher sagte man ehedem, die Sonne geht zu
Gnaden, oder wie es bey dem Kaisersberg lautet, zu Naden, d. i. gehet unter,
der Tag neiget sich. In dieser Bedeutung ist es im Hochdeutschen völlig
veraltet, wo man es nur im figürlichen beybehalten wird. 1. Die Neigung,
jemanden Wohlthaten zu erweisen, die Geneigtheit, Gewogenheit, Freundschaft,
und eine in dieser Gesinnung gegründete Handlung, ohne Unterschied des Standes,
Vf genade, auf Freundschaft, Chriemhild Rache. Das ich urlub nam und mich in ir
genade bot, daß ich Abschied nahm und mich ihrer Gewogenheit empfahl, Graf Otto
von Bottenloube. Ob sie genade an mir begat, ob sie mir günstig ist, ebend. Bey
den Schwäbischen Dichtern ist es in dieser Bedeutung sehr häufig, wie es denn
auch im Oberdeutschen in derselben noch völlig gänge und gebe ist, und in der
gesellschaftlichen Höflichkeit unter Personen gleiches Standes täglich
gebraucht wird. in der Deutschen Bibel kommt es in derselben gleichfalls vor;
ja selbst im Hochdeutschen sagt man in der vertraulichen Sprechart, wie stehe
ich in ihrer Gnade? Sie stehet bey ihm in großer Gnade, d. i. Gunst,
Gewogenheit. Eines Gnade leben, in engerer Bedeutung, von seiner Barmherzigkeit
leben.
S. Gnadenbrot. Auf Gnade arbeiten, heißt bey den
Handwerkern, wenn ein Geselle nicht auf einen gewissen Lohn arbeitet, sondern
mit demjenigen zufrieden ist, was ihm der Meister aus guten Willen gibt. Ja
noch in weiterer Bedeutung wurde es ehedem für Neigung, Andacht, Danksagung,
Frömmigkeit u. s. f. gebraucht. Das Volk hette große Gnode und Andacht zu der
Kirchen zum Alten
S. Peter, Königshov. Kero gebraucht es für Frömmigkeit, und
bey dem Siryker bedeutet Got gnaden ihm danken. 2. In engerer und
gewöhnlicherer Bedeutung, die unverdiente Neigung eines Höhern, einem Geringern
Wohltathen zu erweisen, wo es am häufigsten gegen sehr hohe Personen, aus Höf-
lichkeit aber auch gegen geringere, wenn sie nur beträchtlich über uns erhaben
sind, gebraucht wird. 1) Überhaupt. (a) Diese unverdiente Neigung selbst, sie
mag nun wirklich unverdient seyn, oder aus Herablassung als unverdient
betrachtet werden. Durch Gottes Gnade. Gott gebe seine Gnade dazu. Wir von
Gottes Gnaden u. s. f. Bey den Landesherren in großer Gnade (im gemeinen Leben,
in großen Gnaden, oder in hohen Gnaden) stehen; dessen Gnade verlieren,
verscherzen; wieder bey ihm in Gnade, oder in Gnaden kommen; dessen Gnade
erlangen; aus dessen Gnade fallen. Jemanden zu Gnaden helfen, ihn bey einem
Höhern in Gnade bringen. Wollen Ew. Durchl. die Gnade haben, mir ihre Befehle
mündlich zu ertheilen? Halten sie mirs zu Gnaden, nehmen sie es nicht ungnädig
auf. Die biblischen Redensarten, Gnade vor einem finden, einem Gnade geben,
einem Gnade thun, mit Gnaden ansehen u. s. f. sind im Hochdeutschen
ungewöhnlich. (b) Eine darin gegründete Handlung, Erweisung dieser Gnade in
einzelnen Fällen. Einem eine Gnade erweisen, erzeigen. Der Fürst hatte die
Gnade für ihn, oder erwies ihm die Gnade, ihn persönlich zu besuchen. Um eine
Gnade bitten. Sich eine Gnade ausbitten. Statt des Plurals gebraucht man hier
lieber den Plural des Wortes Gnadenbezeigung. Besonders so fern sich diese
Neigung durch Erlassung oder Milderung der verdienten Strafe äußert, wo es am
häufigsten ohne Artikel gebraucht wird. Einem Missethäter Gnade widerfahren,
ihm Gnade angedeihen lassen, ihn begnadigen. Um Gnade bitten. Gnade erlangen,
bekommen. Gnade für Recht ergehen lassen. Es ist keine Gnade zu hoffen. Auf
Gnade sündigen, in Hoffning, daß die Sünde werde vergeben werden. Es ist ihm
alle Gnade abgesprochen worden. (c) Als ein Ehrentitel gewisser Personen; im
Abstracto Ew. Gnaden. Se, Gnaden, Ihre Gnaden. Ehedem gab man diesen Titel den
Kaisern, Königen und weltlichen Fürsten. Seitdem aber Majestät und Durchlaucht
üblich geworden sind, bekommen ihn die geistlichen Churfürsten, ingleichen die
gefürsteten Bischöfe und Äbte, wenn sie nicht geborne Fürsten sind, in manchen
Fällen auch die neufürstlichen Häuser, ferner die Reichsgrafen und alten
Freyherren, mit Beyfügung ihrer andern Unterscheidungswürde. Ew.
Churfürstliche, Hochfürstliche, Fürstliche, Bischöfliche, Hochgräfliche,
Freyherrliche Gnaden. Ja es verlangen diesen Titel alle geringere Edelleute von
ihren Bedienten und Unterthanen; wie ihn denn adeliges, besonders
verheirathetes, Frauenzimmer nicht nur von bürgerlichen, sondern selbst von
adeligen Personen bekommt. Statt des Plurals ist es im Oberdeutschen auch nur
im Singular üblich. Was sein Gnad dazu helfen möge. Wenn ihrer Gnad nun werden
kundt solche Sachen, Theuerd. 2) In engerer theologischer und biblischer
Bedeutung, die unverdiente Geneigtheit Gottes zur geistlichen ewigen Wohlfahrt
der Menschen. (a) Eigentlich, wo es zuweilen im Plural, ohne Singular gebraucht
wird. Aus Gnaden seyd ihr selig worden, durch den Glauben, Ephes. 4, 8. Ists
aber aus Gnaden, si ists nicht aus Verdienst der Werke, sonst würde. Gnade
nicht Gnade seyn, Röm. 11, 16. (b) Figürlich. (1) Jede Erweisung und Wirkung
derselben in Verschaffung der geistlichen und ewigen Wohlfahrt. Das Reich der
Gnade, oder das Gnadenreich der ganze Zusammenhang der zur Wiederherstellung
der rechtmäßigen Beschaffenheit des Menschen verordneten Endzwecke und Mittel,
im Gegensatze des Reiches der Natur und des Reiches der Herrlichkeit. (2) Die
durch derselben Erkenntniß und Annehmung im Menschen vorgehenden Wirkungen und
Veränderungen. Dahin die zuvorkommende, die heiligende,
[
737-738] die bessernde, die rechtfertigende Gnade
gehöret. Die Zeit der Gnade oder die Gnadenzeit, diejenige Zeit, in welcher
diese Veränderungen noch Statt finden. (3) Die daraus entstehende und besonders
in der Wiedergeburt angerichtete neue Fertigkeit der Gläubigen, welche auch der
Geist genannt wird, im Gegensatze der Natur oder des Fleisches. Der Stand der
Gnade oder der Gnadenstand, der Stand dieser Fertigkeit. Anm. Bey dem Kero
Gnada, bey dem Ottfried Ginada, bey dem Willeram Gnada, im Schwabensp. wo es
auch für Danksagung gebraucht wird, Genaude, im Dänischen nur Naade, im Schwed.
Nad, wo es aber auch Ruhe bedeutet. Diejenigen Fälle, worin der plural Gnaden,
der sich auch der folgenden Zusammensetzungen bemächtiget hat, statt des
Singulars gebraucht wird, sind, wenigstens in dem gemeinen Sprachgebrauche,
bereits allgemein und rechtskräftig geworden. Aus der R. A. bey einem in großen
Gnaden stehen, erhellet, daß es wirklich der Plural, und nicht etwa nur eine
veraltete Declination des Singular ist. Das G zu Anfange ist die Vorsylbe Ge,
welche nochmals, wie in mehrern Fällen vor dem l, n, und r, ihr e verloren hat,
welches man ihr ohne Mißklang jetzt nicht wieder geben kann.
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