Ziehen
, [
1705-1706] verb. irreg. ich ziehe, du
ziehest, er ziehet, oder zieht, (Oberd. du zeuchst, er zeucht,) Conj. daß ich
ziehe u. s. f. Imperf. ich zog, Conj. zöge; Particip. gezogen; Imperat. ziehe
oder zieh, (Oberd. zeuch.) Es ist in einer dreyfachen Gestalt üblich. I. Als
ein Activum, einen Körper langsam nach sich zu in Bewegung setzen. Geschiehet
diese Bewegung nach sich zu nicht langsam und nach und nach, sondern schnell
und mit Heftigkeit, so heißt sie reißen. Geschiehet sie von sich weg, und zwar
langsam, so heißt sie schieben, und wenn sie mit Heftigkeit geschiehet, stoßen.
Ziehen ist also in Ansehung der Richtung dem schieben, in Ansehung des Grades
der Stärke aber dem reißen entgegen gesetzt. 1. Eigentlich, einen Körper, mit
welchem man zusammen hängt, oder ein Continuum mit demselben ausmacht, langsam
nach sich zu, und in weiterer Bedeutung, langsam nach einer gewissen Richtung,
bewegen. Die Pferde ziehen den Wagen. Ein Pferd, das nur zum Ziehen taugt.
Wasser aus dem Brunnen ziehen. Jemanden bey den Haaren ziehen. Flachs durch die
Hechel ziehen, ihn hecheln; daher figürlich, jemanden durch die Hechel ziehen,
ihn durchhecheln. Etwas mit einem Haken, mit einem Bande zu sich ziehen. Ein
Band fester zusammen ziehen. Den Fuß, die Hand zurück ziehen. Den Kopf aus der
Schlinge ziehen. Den Mund ziehen. Die Achseln ziehen, in die Höhe ziehen,
zucken. Den Hut ziehen, von dem Kopfe, ihn abziehen. Den Degen ziehen, aus der
Scheide, von Leder ziehen. Einen Nagel aus der Wand ziehen. Ein Schiff an das
Land ziehen. Die Glocke ziehen. An einem Seile, am Ruder, am Joche ziehen. Den
kürzern ziehen, ein figürlicher Ausdruck,
S. Kurz. 2. In weiterer und figürlicher Bedeutung. (a)
Viele Handlungen, welche mit dem vorigen Ziehen verbunden sind, werden oft nur
ziehen schlechthin genannt. Draht ziehen, Metall durch das Ziehen in Draht
verwandeln. Lichter ziehen, durch Eintauchen der Dachte Lichter machen;
gezogene Lichter, zum Unterschiede von gegossenen. Federspulen ziehen. Den
Beutel ziehen, heraus ziehen, um zu bezahlen; auch figürlich, für bezahlen.
Saiten auf eine Violine ziehen, spannen. Ein Feuergewehr ziehen, es inwendig
mit geraden oder gewundenen Reifen versehen; daher ein gezogenes Rohr. Eine
Lotterie ziehen. Viel Geld ziehen, aus etwas ziehen, einnehmen. Doppelten
Gewinn ziehen, haben, bekommen. Interessen ziehen. Einen Wechsel auf jemand
ziehen, oder auch als ein Neutrum, auf jemand ziehen, auf ihn trassiren. Eine
Linie ziehen. Furchen ziehen. Eine Mauer ziehen, führen oder machen. Blasen
ziehen, entstehen machen. (b) Auf eine oder die andere Art in Bewegung setzen,
in vielen einzelnen Fällen. Die Sonne zieht die Dünste aus der Erde. Die Sonne
zieht Wasser, sagt man, wenn sie zwischen ein Paar dichten Wolken
durchscheinet, so daß man einen hellen Streifen siehet. Die Pferde aus dem
Stalle, in den Stall ziehen, führen. Den Wein auf Bouteillen ziehen, zapfen.
Jemanden auf die Seite ziehen, ihn auf die Seite treten machen. Jemanden an
sich ziehen, auf seine Seite, auf seine Partey ziehen. Die Sonne ziehet die
Farbe aus dem Tuche.
O wenn dich noch ein Opferschmaus herab vom Himmel ziehet,
Raml.
Jemanden vor Gericht ziehen, nöthigen, vor Gericht zu
erscheinen, ihn verklagen. Der Magnet ziehet das Eisen an sich. Etwas an sich
ziehen, es in seinen Besitz bringen. Das Gefäß zieht Wasser, wenn es das Wasser
eindringen läßt. Die Sonne hat das Bret ganz krumm gezogen. Truppen zusammen
ziehen, versammeln. (c) Herleiten, hernehmen. Seine Nahrung aus etwas ziehen.
Eine gute Lehre aus etwas ziehen. Eine Folge aus etwas ziehen. Etwas aus einem
Buche ziehen, schreiben. Den Inhalt heraus ziehen. Nutzen, Vortheil aus etwas
ziehen. (d) In vielen andern Fällen lässet es sich nicht anders als sehr
allgemein bestimmen, da denn die nähere Art der Veränderung durch allerley
Beysätze bezeichnet wird. Etwas in Betrachtung, in Erwägung ziehen, es erwägen,
bedenken. Etwas auf sich ziehen, deuten, auslegen. Jemanden mit etwas in
Verdacht ziehen, haben. Jemanden zu Rathe ziehen, sich seines Rathes bedienen.
Sie haben mich mit in ihr Geheimniß gezogen, haben es mir anvertrauet. Zu
wichtigen Sachen gezogen werden. Jemanden zur Verantwortung, zur Strafe ziehen.
Sich etwas zu Gemüthe ziehen, sich darüber beunruhigen, Kummer darüber
empfinden. Sich ein Unglück über den Hals ziehen, sich dasselbe verursachen.
Das ziehet viel Unglück, viel Böses nach sich. Den Krieg in die Länge ziehen,
seine lange Fortdauer verursachen, ihn verlängern. (e) Von der Stimme und dem
Tone der Stimme gebraucht man ziehen für dehnen. Die Wörter ziehen. Daher
einige Sprachlehrer den gedehnten Ton den gezogenen nennen, wofür doch der
gedehnte edler ist. (f) Durch Pflege und Wartung heran wachsen machen, wo es
wieder mit verschiedenen Schattirungen gebraucht wird. 1. Ein Kind, ein junges
Thier groß ziehen, es durch Pflege und Nahrung zum erwachsenen Alter bringen,
es aufziehen. Nelken aus dem Samen ziehen, groß wachsen machen. Einen Bart
ziehen, wachsen lassen. 2. Fortpflanzen machen, und zugleich groß ziehen.
Holstein ziehet viele Pferde, Liefland viel Flachs.
[
1707-1708] 3. Groß ziehen, und zugleich zu einem
pflichtmäßigen Verhalten anhalten, erziehen. Ich ziehe ihn zu allem Guten. Ein
Kind, welches sich gern ziehen läßt. Nehmt euren Sohn zurück, ich ziehe nichts
aus ihm, Gell. Ich will sie ziehen, wie ich sie mir wünsche, eben ders. In
dieser ganzen Bedeutung ist das Wort schon alt, und lautet im Kero zechan, im
Ottfried ziuhan, im Schwed. tukta. In dem Lat. educare herrscht eben dieselbe
Figur.
S. auch Zucht. II. Als ein Reciprocum, in manchen
Bedeutungen des vorigen Activi. (1) Sich langsam fortbewegen. Die Wolken ziehen
sich zusammen. Die Truppen ziehen sich nach dem Rheine. Sich zurück ziehen. Ein
röthliches Gemisch zieht von dem Berge sich ins Thal, Geßn. 2. Sich dehnen oder
ziehen lassen. Der Leim ziehet sich, wenn er sich ausdehnen läßt. Der Weg
ziehet sich in die Länge, wenn er lange dauert. 3. Seine Richtung verändern.
Die Wand ziehet sich, im Bergbaue, wenn sie einen Bug bekommt und einstürzen
will. Das Bret hat sich gezogen, wenn es sich geworfen hat. 4. Sich in die
Länge erstrecken. Das Gebirge ziehet sich weit in das Land. Der Wald ziehet
sich nach dem Flusse zu. 5. Nach und nach in etwas eindringen. Das Wasser
ziehet sich in den Schwamm. Der Geruch ziehet sich in die Kleider. 6. In
manchen einzelnen Fällen bedeutet es überhaupt, eine langsame Veränderung an
sich bewirken. Sich mit Klugheit aus einer Sache ziehen, die Verbindung mit
derselben aufheben. Sich ins Kleine, in die Enge ziehen, seinen äußern Umfang,
seinen Wirkungskreis vermindern, seine Ausgaben einschränken, u. s. f. Eine
blaue Farbe zieht sich in das Rothe, wenn ihr ein wenig Roth beygemischet ist;
ist die Beymischung stärker, so gebraucht man das Wort fallen. III. Als ein
Neutrum, in verschiedenen figürlichen Bedeutungen des vorigen Activi, mit dem
Hülfsworte seyn. 1. Sich langsam fortbewegen. Die Wolken ziehen gegen Abend.
Die Vögel ziehen, wenn sie ankommen und fortstreichen. Ich sah sie, die Göttinn
deines Stroms vor deinem Tannenhaine mit ihren Schwänen ziehn, Raml. Die Jäger
ziehen zu Holze. Die Armee ziehet durch das Land. Am häufigsten wird es
freylich von der langsamen Bewegung mehrerer Dinge einer Art gebraucht, aber
auch häufig von einzelnen Dingen. Der Ackermann ziehet zu Felde, wenn er mit
dem Pfluge in das Feld gehet. In den Krieg ziehen, Kriegesdienste nehmen. Auf
die Wache ziehen, von Soldaten. Er zog seine Straße fröhlich, in der Deutschen
Bibel; doch ist es in diesem Verstande für gehen im Hochdeutschen veraltet. Nur
die Jäger gebrauchen es noch von dem Hirsche für gehen. 2. Seinen Wohnort, den
Ort seines Aufenthaltes verändern. Aus einem Hause, in ein Haus ziehen. Aus der
Stadt, auf das Land ziehen. In ein anderes Land ziehen. Auch von dem Gesinde
und den Dienstbothen, wenn sie ihre Herrschaft verändern. Mein Bedienter ist
von mir gezogen. Zu jemanden von jemanden ziehen. In einen Dienst, aus einem
Dienste ziehen. Anm. 1. Dieses Verbum lautet von den frühesten Zeiten an
zechan, ziuhan, bey dem Ulphilas tiuhan, im Nieders. tehen, teön, im Engl. tug,
und tow, im Schwed. toga, womit auch das Lat. ducere und unser zähe verwandt
ist. Es erhellet daraus zugleich, daß die Verwechselung des rund z bloß eine
Eigenheit der Mundarten ist, welche an dem Wesen des Wortes nichts verändert.
Dieß voraus gesetzt, ist dieses Wort auch darum merkwürdig, weil es, wenigstens
in den Mundarten und verwandten Sprachen, mehrere alte Ableitungsformen
aufbehalten hat. Vermittelst der intensiven Ableitungssylbe -nen ist daraus
unser dehnen, Nieders. tanen, stark ziehen. Die iterative Ableitungssylbe -ren
[
1707-1708] gibt das Nieders. tiren, oft ziehen, wovon
unser zerren, heftig hin und her ziehen, das Intensivum ist. Das
Österreichische zügeln, und Hannöv. taheln, unser zucken, zupfen, Zucht,
züchtigen, das Meklenburgische rodden, unser zotteln, zögern, zaudern u. a. m.
sind wieder nach andern Formen abgeleitet.
S. auch Zug. Anm. 2 In einigen Oberd. Gegenden lautet
dieses Verbum züchen oder zeuchen, und davon ist im Präsenti du zeuchst, er
zeucht, und im Imperativ zeuch, ein Überrest, der von den Dichtern von Opitzens
Zeit an beybehalten worden, und dem du ziehest, er zieht, ziehe, vorgezogen
worden, weil jenes den Mund mehr füllet. Aus eben der Ursache behalten auch
unsere heutigen Dichter selbige bey. [
1707-1708]