Vergehen
, [
1231-1232] verb. irreg. welches in
doppelter Gestalt vorkommt. I. Als ein Reciprocum, sich vergeben, fehl gehen,
irre gehen. 1. * Eigentlich, in welcher Bedeutung es im Hochdeutschen veraltet
ist. Das manch Mensch sich darin verging, Hans Sachs.
Ich habe dieses neue Jahr Nicht, wie es billig angefangen, Und
mit der Sünder leichten Schar Von deinem Wege mich vergangen, Gryph.
Bey den Schlesischen Dichtern kommt es in dieser Bedeutung
mehrmahls vor. 2. Figürlich, einen sittlichen Fehler begehen, aus Übereilung
oder Unachtsamkeit wider ein sittliches Gesetz handeln, wodurch es sich von
versehen unterscheidet. Sich im Zorne vergehen. Sich im Trunke vergehen, zu
viel trinken und aus Trunkenheit sündigen. Sich wider jemanden vergehen, ihn
aus Unachtsamkeit oder Übereilung beleidigen. Sich mit Worten wider ihn, oder
auch wohl an ihm vergehen. Sich thätlich wider jemanden vergehen, sich an ihm
vergreifen. Du hast dich gröblich wider das Gesetz vergangen. Daher das
Vergehen und die Vergehung, nicht allein von dieser Handlung, sondern auch von
solchen Fehlern und Übereilungen selbst, da sie denn auch den Plural leiden.
Jemanden seine Vergehungen oder Vergehen verzeihen. In weiterer Bedeutung wird
auch wohl eine jede Übertretung eines Gesetzes, so fern man sie aus Glimpf aus
einer Übereilung herleitet, mit dem Zeitworte vergehen und den davon
abgeleiteten Hauptwörtern ausgedruckt. II. Als ein Neutrum, mit dem Hülfsworte
seyn, vorbey gehen, in die Ferne gehen. 1. * Eigentlich; eine jetzt veraltete
Bedeutung, in welcher es ehedem auch active mit der vierten Endung der Person
gebraucht wurde. In diesem Verstande hat schon Ottfried firgehan, und Notker
irgehan, für praeterire. In weiterm Verstande heißt es bey den Schwäb.
Dichtern, diu Zit vergat mih, die Zeit vergehet mit, diu Wunne vergat mih,
gehet bey mir vorbey. In dieser thätigen Form ist es im Hochdeutschen veraltet.
2. In weiterer und figürlicher Bedeutung. (1) Sich dem Gesichte, und in weiterm
Verstande, der Empfindung nach und nach entziehen, und dadurch sein scheinbares
Daseyn verlieren; wo verschwinden eine größere Geschwindigkeit ausdruckt. Der
Nebel, der Rauch vergehet. Die Wolken sind vergangen. Der Fleck auf der Haut
vergehet, ist vergangen. Der Schmerz vergehet. Alle Kraft ist mir vergangen.
Das Gesicht vergehet, wenn die Kraft zu sehen nach und nach abnimmt. Hören und
Sehen möchte einem darüber vergehen. Besonders von der Zeit und ihren Theilen.
Die Zeit vergehet geschwinde. Das Jahr ist vergangen. Ehe ein Monath vergehen
wird. Da die sieben Tage vergangen wären, 1 Mos. 7, 10. Da der Sabbath
vergangen war, Marc. 16, 1. Die Nacht ist vergangen, und der Tag ist herbey
kommen, Röm. 13, 12. In einigen gemeinen Sprecharten wird daher das Mittelwort,
als ein Bey- und Nebenwort, auch von einer jüngst vergangenen Zeit gebraucht.
Vergangene Woche, oder in vergangener Woche, vorige Woche. Im vergangenen
Jahre, im vorigen. Vergangen, als ich ihn sprach, neulich, vor kurzen. Ich hab'
ihn vergangen gesprochen, neulich. Die Niedersachsen gebrauchen dafür auch
verleden, andere Hochdeutsche aber verwichen. (2) Aufhören zu existieren,
besonders nach und nach aufhören, als ein sehr allgemeines und unbestimmtes
Wort, daher man es nur noch in einigen Fällen gebraucht, wo die nähere Art und
Weise entweder nicht bestimmt werden soll, oder nicht kann. Sein Gedächtniß
wird vergehen, Hiob 18, 17. Alles Fleisch würde mit einander vergehen, Hiob 34,
15. Himmel und Erde werden vergehen. Dieß Geschlecht wird nicht vergehen
(untergehen), Matth. 24, 34. Er vergehet in seinem Elende. Man möchte vor
Ärgerniß, vor Gram vergehen. Von einer Person, welche an Gesundheit und Kräften
merklich abnimmt, sagt man, sie vergehe, wie ein Schatten.
[
1233-1234] Anm. Im Niedersächsischen bedeutet sich
vergehen, so wie das Oberdeutsche sich ergehen, auch, spazieren gehen, sich
eine Veränderung durch Gehen machen. [
1233-1234]