Rathen
, [
949-950] verb. irreg. act. ich rath, du
räthst, er räth; Imperf. ich rieth; Mittelw. gerathen; Imperat. rathe; ein
Zeitwort, welches außer der Zusammensetzung noch in einer doppelten
Hauptbedeutung üblich ist. 1. Ohne Grund, durchs bloße Ungefähr urtheilen, aber
zu urtheilen sich bemühen. 1) Eigentlich, wo es als ein Neutrum am üblichsten
ist, welches aber doch das Hülfswort haben erfordert. Rathen sie einmahl, wie
viel es gekostet hat. Rate, was ist das? Man wußte den Thäter nicht gewiß, alle
aber riethen auf Cajum, hielten Cajum aufs bloße Ungefähr für den Thäter. Ich
rathe hin und her, und kann es nicht errathen. Man muß eine Sache wissen, und
nicht bloß rathen. Oft schließt dieses Wort alle auch bloß wahrscheinliche
Gründe aus; oft aber räth man auch, wenn man einige wahrscheinliche Gründe vor
sich hat, und alsdann nähert er sich in seiner Bedeutung dem Worte muthmaßen.
Es scheint eigentlich das Hin- und Herschweifen der Gedanken bey dem Rathen zu
bezeichnen, da es denn eine unmittelbare Figur von der ursprünglichen Bedeutung
dieses Wortes seyn würde, nach welcher es den Begriff der Bewegung hat. Ehedem
bedeutete Rath auch die Muthmaßung. Das Nieders. raden, raen, das Angels.
araedan, und Holländ. raaden, kommen mit unserm rathen überein. Bey dem
Ulphilas ist so wohl rathjan als rahnan, schätzen, zählen, woraus zugleich die
Verwandtschaft mit rechnen erhellet. (
S. 3 Rath 1 5) und Räthsel.) 2) In engerer Bedeutung,
vermittelst solches Rathens die Wahrheit erreichen, recht rathen, für errathen.
Du hast gerathen. Das kann ich nicht rathen. 2. Einen Rath geben, d. i. eine
nützliche Regel des Verhaltens ertheilen, mit der dritten Endung der Person und
der vierten der Sache. 1) Eigentlich. Einem etwas rathen, es ihm als eine
nützliche Regel des Verhaltens bekannt machen, es ihm als nützlich oder heilsam
empfehlen. Einem Gutes rathen. Einem Kranken ein Arzeneymittel rathen. Einer
räth dieß, der andere jenes. Was rathen sie mir? Er läßt sich nicht rathen,
nimmt keinen Rath an. Wem nicht zu rathen ist, dem ist auch nicht zu helfen.
Ich rieth ihm, daß er nicht hingehen sollte. Rathen sie mir, daß ich es thun
soll? Ich rathe dir, daß du Geld kaufest, Offenb. 3, 15. Oft auch mit dem
Vorworte zu. Dazu kann ich ihnen nicht rathen. Zum Frieden rathen. Zuweilen
druckt es ein Verboth oder einen Befehl aus. Das wollte ich dir nicht rathen.
Ich rathe dir, daß du folgest. 2) Figürlich. (a) Helfen, besonders im gemeinen
Leben und den vertraulichen Sprecharten. Er wollte dem Lande in dieser Sache
rathen und helfen, 2 Macc. 14, 9. Er weiß sich nicht zu rathen. Damit ist mir
nicht gerathen, nicht geholfen. Geschehenen Dingen ist nicht zu rathen, Less.
ihnen ist nicht abzuhelfen, sie sind nicht zu ändern. Schon Ottfried gebraucht
riaten, für helfen und Girati für Hülfe. Auch unser Rath hat noch zuweilen
diese Bedeutung. (
S. 2 Rath 2) und Berathen.) (b) Nützlich seyn, in
welchem Verstande doch nur das Mittelwort gerathen als ein Nebenwort für
nützlich und heilsam gebraucht wird. Thaz thunkit mih girati, sagt schon
Ottfried. Ich halte es für gerathen, daß du hingehest. Dieß scheinet mir in
diesem Falle das gerathenste zu seyn. Ich finde es gerathener, daß du es nicht
thuest. Im Oberdeutschen ist es in diesem Verstande am üblichsten. Das
Hauptwort die Rathung ist in keiner der vorigen Bedeutungen üblich, ob es
gleich in den Zusammensetzungen gangbar ist. Man gebraucht dafür das Rathen.
Anm. In der zweyten Hauptbedeutung lautet es im Nieders. raden, raen, im
Angels. raed, im Alt-Engl. to read, im Schwed. rada, im Isländ. rada, und
selbst im Syrischen rata. Ottfried gebraucht ratan auch für rathschlagen, in
welchem Verstande es aber veraltet ist. Rathen ist ursprünglich eine Nachahmung
des Schalles, so wohl der Rede und des Redenden, als auch einer schnellen,
besonders kreisförmigen, Bewegung. Daher rühret es denn, daß es ehedem, und zum
Theil noch jetzt in den verwandten Sprachen, in so vielen Bedeutungen vorkommt,
welche sehr verschieden zu seyn scheinen, aber am Ende doch insgesammt Figuren
einer von beyden Arten des Schalles sind. Figuren von dem Schalle der Rede,
welches Wort selbst hierher gehöret, sind 1) rathen, consulere; 2) rathen,
divinare; [
953-954] 3) des Ulphilas rathjan, schätzen,
rechnen, und das Oberdeutsche raiten, reiten, rechnen; 4) das Engl. to read,
lesen; 5) das riaten, in der Monseeischen Glosse, für trösten, und dieses
trösten selbst; 6) das Schwed. rada, prodere, wofür wir verrathen sagen; 7) das
Schwed. rada, befehlen, herrschen, im Hebr. -
hier nichtlateinischer Text,
siehe Image - , (
S. 3 Rath 3;) wovon die im Deutschen veraltete Bedeutung
des Könnens, Vermögens, eine Figur ist, welche aber auch zu rathen, reichen,
gehören kann; 8) das Schwed. rada, schelten, strafen, züchtigen; 9) das
gleichfalls Schwed. rada, erklären, auslegen, und andere mehr. Figuren von dem
durch eine schnelle Bewegung verursachten Schalle und von dieser Bewegung
selbst, sind: 1) das Isländische rata, hin und wieder gehen, das Schwed. rada,
kommen, und unser gerathen, von ungefähr kommen; 2) unser reiten, equitare; 3)
das veraltete ratuon, wofür wir jetzt intensive reitzen sagen; 4) das veraltete
raten, ziehen, reißen, Nieders. riten, wovon Kero untratan für entziehen
gebracht, und wovon vielleicht unser entrathen und das Oberd. rath seyn,
mangeln, entbehren, abstammen; 5) das gleichfalls veraltete rathen, reichen,
womit unser recht und gerade verwandt sind; (
S. Gerade und Gerecht, Gerathen und Gereichen;) 6) das
ehemahlige rathen, geben, welches eine Figur der vorigen Bedeutung ist, Schwed.
rada, Lat. mit vorgesetztem t, tradere, wovon noch unser berathen in einigen
Bedeutungen abstammet; 7) das veraltete rathen, aufschließen, in die Höhe
wachsen, welches mit Riefe, Reis und andern verwandt ist, und welches in
gerathen und mißrathen noch figürlich üblich ist, wohin auch das Schwed. rada,
erziehen, aufziehen, gehöret; 8) das Schwed. rada, tödten, umbringen, und
andere mehr. Aus allem erhellet zugleich die Verwandtschaft mit Rad, Rede,
Rasen u. s. f. [
953-954]