Genießen
Genießen,
[
565-566] verb. irreg. act. ich genieße,
du genießest, im Oberd. geneußest, er genießet oder genießt, im Oberd. geneußt;
Imperf. ich genoß; Mittelw. Genossen; Imperat. genieße oder genieß, Oberd.
geneuß. An den Wirkungen eines Gutes Theil nehmen, Nutzen davon haben. 1.
Überhaupt, mit der vierten Endung der Sache. 1) Mit Anmuth empfinden, besonders
von Dingen, die man selbst hat oder besitzet. Die Ruhe genießen. Seine
Glückseligkeit genießen. Die Freuden des Lebens genießen. Der süße Frieden,
welchen man in dem Schooße seiner Familie genießt. Gott genießen, eine
auschauende Erkenntniß des Guten in ihm haben. Im Oberdeutschen mit der zweyten
Endung der Sache. Arbeiten und deß nicht genießen, Hiob 20, 18.
Land, Stadt, Mensch, Vieh und Feld geneußt der füßen Ruh,
Opitz.
Welches auch in der edlen und höhern Schreibart der
Hochdeutschen häufig nachgeahmet wird. Der Freuden des Lebens genießen, Gell.
Gott hat die Menschen so gebildet, daß sie der Gaben seiner Gnade mit Ergetzung
genießen können, ebend. Geh, meine gute Laura, laß mich dieses Glücks genießen,
Weiße.
Geneuß, geneuß der Ruh, die dir entzogen, Seit ich dieß Feuer
angefacht, Raml.
Woraus zugleich die Unrichtigkeit der von Frisch gegebenen
Regel erhellet, daß genießen die vierte Endung erfordere, wenn man eine Sache
ganz, und die zweyte, wenn man nur einen theil derselben genieße; indem im
Oberdeutschen mehrere Zeitwörter ohne alle Einschränkung die zweyte Endung
erfordern. Wenn dieses Zeitwort absolute siehet, so bedeutet es oft überhaupt,
angenehme Empfindungen aller Art haben. Der Wollüstling will nur genießen,
niemahls denken.
Wie kluge zu genießen wissen, Verbleibt dem Pöbel unbewußt,
Haged.
Einen solchen Menschen der nur immer genießen, d. i.
sinnliche angenehme Empfindungen haben will, nennet Luther in der Erklärung des
Magnificat sehr richtig und treffend einen Nießling. 2) In weiterer Bedeutung,
Nutzen von etwas haben, an den guten Wirkungen und Folgen einer Sache Theil
nehmen. Selig ist, die da unschuldig ist - dieselbe wirds genießen, zur Zeit,
wenn man die Seelen richten wird, Weish. 3, 13. Du hast das erst künftig zu
genießen, wirst erst künftig die guten Folgen davon empfinden. Ich wills die
Armen schon genießen lassen, Gell. Im Oberdeutschen und der edlen Schreibart
der Hochdeutschen, gleichfalls mit der zweyten Endung. Der Frucht des Windes
geneust man, Sprichw. 13, 2. Der Gerechte wird sein ja genießen, Pf. 58, 2. 3)
In der weitesten Bedeutung, der Gegenstand einer vortheilhaften Begegnung seyn,
ohne eben den Begriff der damit verbundenen angenehmen Empfindung auszudrucken;
gleichfalls zuweilen mit der zweyten Endung. Er hat in seiner Jugend den besten
Unterricht genossen. Glückselig sind wir, die wir einer guten Erziehung
genossen haben, Gell. Wir haben viel Gutes, viel Ehre, viel Höflichkeit bey
ihnen genossen. Ich danke für genossene Ehre, für genossene Höflichkeit. Viele
Wohlthaten von jemanden genießen. 2. Besonders, in einigen einzelnen Fällen. 1)
Durch die Sinne empfinden. In diesem Verstande gebraucht man dieses Wort nur in
der anständigen Sprechart des Jagdwesens für riechen. Der Hund genießt die
Fährte, wenn er sie durch den Geruch empfindet. 2) Als Speise und Trank zu sich
nehmen. Das heilige Abendmahl genießen. Die Speise ist so gesalzen, daß man sie
nicht genießen kann. Ich habe heute den ganzen Tag noch nichts genossen. Wollen
sie nicht etwas davon genießen? zu sich nehmen. Bey den Jägern sagt man, den
Hund genossen machen, wenn man ihm einen gewissen Theil von dem erlegten Wilde
zu fressen gibt, welches auch, den Genieß, oder den Genuß geben, ingleichen
pfneischen genannt wird. 3) Sonderbar ist die im gemeinen Leben übliche R. A.
einem etwas für genossen hingehen lassen, es ihm ungeahndet, ungerächet lassen.
Ich kann es zufrieden seyn, daß man ihm auch jenes nicht für genossen ausgehen
lässet, Less. Wie aber geht es dem für so genossen aus? Can. Allein, es hat
allen Anschein, daß dieses Mittelwort nicht zu genießen, sondern zu genesen
gehöret, welches ursprünglich mit genießen, verwandt zu seyn scheinet, und in
irgend einer Gegend mit demselben auf einerley Art mag seyn abgewandelt worden.
Genossen kommt bey den ältern Schriftstellern mehrmahls für unbe-
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567-568] schädigt, glücklich, unverletzt, vor. Thaz sie
genozen iht entrinnen, damit sie nicht glücklich davon kommen, Fragm. de bello
Caroli bey dem Schilter v. 3226. Swer genozen hine vare, wer glücklich davon
kommt, v. 3334. Varent sie also genozen hinnen, v. 3454. Vnd schol genossen hin
khomen, Stryk. Kap. 14. Sect. 3. So auch die Genießung, wenigstens in einigen
Fällen, da in den meisten auch der Genuß üblich ist.
S. dasselbe. Anm. Dieses Zeitwort lautet in den meisten
der jetzt angeführten Bedeutungen bey dem Ottfried so wohl geniazan, ginuzzen,
als niazan, niezan, und mit der gewöhnlichen Verwechselung des Zischlautes mit
dem t, nieton, im Schwabensp. niezzen, im Garten der Gesundheit von 1490
genutzen und nutzen, wo es auch Arzeney einnehmen bedeutet, in Schwaben noch
jetzt niazan, im Nieders. neten, geneten, im Angels. notian, nyttian, im Dän.
nyde, im Schwed. njuta, bey dem Ulphilas niutan und ganiutan. Da das n in
manchen, besonders nordischen Sprachen, ein bloßer müßiger Vorsatz ist, so
glaubt Ihre, daß unser nießen und nieten mit dem Latein. uti genau verwandt
sey. Ist dieses, so könnte es von essen, Nieders. eten, abstammen, da denn die
zweyte besondere Bedeutung als die erste eigenthümliche angesehen werden müßte.
S. Nutz, Nutzen, Niedlich. Ottfried gebraucht es so wohl
mit der zweyten, als vierten Endung. Die Oberdeutsche Conjugation geneußest u.
s. f. welche eine Überbleibsel einer rauhern Mundart ist, wo dieses Zeitwort
geneußen lautet, ist auch in der höhern Schreibart der Hochdeutschen nicht
ungewöhnlich, weil sie den Mund mehr füllet, folglich für erhabener gehalten
wird, als das ründere genießest. Ehedem hatte man auch das Activum genießen
oder genieten, genießen machen, welches noch bey dem Notker vorkommt. Langero
tago genieton ih im, mit langen oder vielen Tagen will ich ihn erfüllen.
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567-568]