Der Gehren
Der Gehren,
[
503-504] des -s, plur. ut nom. sing.
oder die Gehre, plur. die -n, ein altes, nur noch in den gemeinen Mundarten in
mancherley Bedeutungen übliches Wort. 1. Eigentlich, ein spitziges Werkzeug,
ein Pfeil, Spieß, Gabel u. s. f. welcher bereits sehr alte Gebrauch noch in
verschiedenen Gegenden Ober- und Niederdeutschlandes vorhanden ist. In dem
alten Fragmente eines Gedichts auf den Krieg mit den Saracenen bey dem Schilter
kommt der Ger und Gar mehrmahls für einen Wurfspieß vor. In der Schweiz ist die
Geere eine Gabel; mit welcher die Fische gestochen werden. Ein rothes
Geereneisen mit zwey Widerhaken, Bluntschli, welche Bedeutung auch das Holländ.
Gheer hat. Im mittlern Lat. bedeutet Guarrus und Garrotus, und im Franz.
Garrot, die Spitze eines stechenden Werkzeuges, und im Engl. ist to gore noch
jetzt stechen. Nimmt man den Übergang des r in f, und der Hauchlaute in
Blaselaute als bekannt an, so wird man die Verwandtschaft dieses Wortes mit dem
alten Gallischen Gesum, ingleichen mit dem Deutschen Wehr, Gewehr, vielleicht
auch mit dem Nordischen Jern, Eisen, (
S. Eisen,) nicht verkennen können.
S. auch Schere, Scheren und Kerben, welche gleichfalls
von diesem Worte abstammen. 2. Figürlich, verschiedene schief oder spitzig
zulaufende Arten von Flächen zu bezeichnen. 1) Bey den Tischlern und
Zimmerleute, eine nach der Diagonal-Linie eines rechtwinkeligen Viereckes
gehende Fläche oder Fuge, eine Fläche, welche mit der horizontalen Fläche einen
Winkel von 45 Grad macht; wo es auch die Gehre, die Göhre, der Giern, die
Göhrung lautet.
S. Gehre, Gehrig, Gehrhobel, Gehrmaß und Gehrung. 2) In
der Landwirthschaft einiger Gegenden, z. B. in Meißen, Thüringen und
Niedersachsen, ist der Gehren ein Stück Landes, welches an einem oder beyden
Enden spitzig zuläuft. Der Gehren gibt und nimmt, eine bekannte Bauerregel,
welche so viel sagen will: wenn die regulären Stücke Ackers nicht die
gewöhnliche und hergebrachte Breite haben (
S. Strichel, Sottel, Gerte) so ist der Gehren zu breit
geackert worden, und er muß das Fehlende abgeben, und so auch umgekehrt; weil
man voraussetzt, daß bey der anfänglichen Vertheilung der Grundstücke lauter
reguläre Antheile von bestimmter Größe gemacht worden, da denn der irreguläre
Überrest unter dem Nahmen eines Gehrens übrig geblieben. In einer
Halberstädtischen Urkunde von 1179 heißt ein solcher Gehren Geroris; im
Nieders. eine Gere, im Hannöverischen aber ein Gard.
S. Gehrenzehnte. 3) Bey den Nähterinnen, ein dreyeckiges
oder keilförmiges Stück in den Hemden, besonders in den Weiberhemden, ein Heil,
Zwickel. Im Niedersächs. auch der Keil oder Zwickel in einem Strumpfe, welcher
Engl. Goar oder Gore heißt. Ja im gemeinen Leben einiger Gegenden, eine jede
spitzig zulaufende Fläche, ein jeder keilförmiger Streifen, wo es auch im
weiblichen Geschlechte, die Gehre, üblich ist. Dahin gehöret auch dasjenige
Stück Leinwand, welches unten an die Segel geheftet wird, um sie breiter zu
machen, und gleichfalls ein Gehren heißt. 4) Die Falte in einem Kleide, wegen
der äußern Ähnlichkeit mit einem Keile, und nach einer noch weitern Figur auch
der weite Theil eines Kleides, welcher die meisten Falten wirft, oder
vielleicht auch durch die in den ehemahligen langen Kleidern angebrachten
Falten verursacht wurde, da es denn bald von der Schleppe, bald aber auch von
dem Schooße der langen Kleider gebraucht wird, und bald die Gehre bald der
Gehren lautet. Er schürzte die Geren auf und fustet sin Messer, Königshov. Wenn
du einem Kinde etwas geben willst, so sprichst du zu ihm: wolan heb den Geren
uf, Kaisersb. Da breitete ich meinen Geren über dich, Ezech. 16, 8. Wenn jemand
heilig Fleisch trüge in seines Kleides Geren, und rührete darnach mit seinem
Geren Brot, Gemüse, Wein u. s. f. Hagg. 2, 13. In welchen Stellen Luther dieses
Wort aus ältern Oberdeutschen Übersetzungen beybehalten hat, indem es in
einigen Gegenden Oberdeutschlandes noch jetzt üblich ist. Bey den Schwäbischen
Dichtern lautet es in diesem Verstande Gere, im Ital. Gerone, Gherone, im
Franz. Giron, im Holländ. Gheren, im Schwed. Gere, im mittlern Lat. Gyro und
Giro. Du Fresne, Ihre und andere leiten es in diesem Verstande von Gyrus, ein
Kreis, her; allein, da dieser Theil der ehemahligen weiten Kleider vermittelst
der Falten so weit gemacht wurde, und diese alle Mahl spitzig zulaufen, so ist
die hier angegebene Abstammung weit wahrscheinlicher. Sie wird auch dadurch
bestätiget, daß im mittlern Lateine dieser Theil der Kleider mehrmahls Sagitta
genannt wird, welches eine buchstäbliche Übersetzung des Deutschen Wortes
Gehren ist. Subtus circa pedestunica debet esse rotunda qualitate mensurata.
Sagittas vero vel gerones tantum habeat, vt iter gradientes vel superfluitate,
vel parcitate non impediat, Guid. Farf. B. 2, bey dem du Fresne. Sedens - -
girones quoque, vel quos quidam sagittas vocant, colligit vtrimque, Udalric. B.
2, Confuet. Cluniac, eben daselbst. [
505-506]