Wahrnehmen
, [
1347-1348] verb. irreg. act. (
S. Nehmen.) 1. Gewahr werden, erblicken. Etwas an
jemanden wahrnehmen. Er ging weg, ohne daß jemand es wahrgenommen hätte. Den
Feind von ungefähr wahrnehmen. Er hat sie schon an ihrem Fenster wahr genommen,
Gell. Das Wild nimmt den Jäger wahr, wenn es ihn erblickt. Ich habe eine große
Beängstigung in ihrem Gesichte wahrgenommen. Wo es im Oberdeutschen auch wohl
mit dem Genitiv verbunden wird. - Nimmt seines Meisters wahr, Opitz. 2. In
weiterer Bedeutung, obgleich seltener durch die Sinne empfinden. Eine Musik,
einen Geruch wahrnehmen. Ich nahm es nicht wahr, daß mich etwas stach.
Ingleichen, so viel als ersehen, erkennen. Ich habe aus diesem Briefe
wahrgenommen, daß u. s. f. 3. Nach vorher gegangener Beobachtung gewahr werden,
bemerken; eine im Hochdeutschen veraltete, wenigstens seltene Bedeutung, in
welcher es im Oberdeutschen auch mit dem Genitiv gebraucht wird. Herr, nehmt
daran der Kunst wahr, Theuerd. 4. * Betrachten, im Hochdeutschen gleichfalls
veraltet; im Oberdeutschen gern mit dem Genitiv. Nehmet wahr der Raben, der
Lilien auf dem Felde, Luc. 12. 5. * Wahrnehmen, um sich davor zu hüthen, im
Oberdeutschen gleichfalls mit dem Genitiv; im Hochdeutschen wo nicht veraltet,
doch wenigstens selten. Nehmt der heißen speys eben wahr, Theuerd. 6. Sorge für
etwas tragen, mit dem Genitiv; im Hochdeutschen mehr in der dichterischen
Schreibart, obgleich das Wort selbst nichts anschauliches hat, als in der
Sprache des gesellschaftlichen Umganges.
Nimm meines Lebens gnädig wahr, Gell. Du trauest dir zu viel,
nimm deiner Wohlfahrt wahr, Schleg.
7. * Wahrnehmen, um es zu befolgen; mit dem Genitiv, im
Hochdeutschen aber veraltet.
Mein Herz nimmt nur deiner Satzung wahr, Opitz.
8. Wahrnehmen, um sich dessen zu bedienen, so wohl mit dem
Accusativ, als mit dem Genitiv. Die oder der Zeit wahrnehmen, sich selbige zu
Nutze machen. Ich nehme dieser Gelegenheit wahr, mit ihre Gewogenheit zu
erbitten, Hermes. Daher die Wahrnehmung,
S. solches besonders. Anm. Das Wort ist alt, und lautet
schon bey dem Ottfried u. s. f. uuar neman. Wahr ist hier das noch in gewahr
übliche Wort, welches sehend bedeutete, und wovon man auch das noch im
Oberdeutschen gangbare Verbum wahren, wahrnehmen, sehen, erblicken, hatte. Bey
den Jägern ist dafür noch gewahr nehmen üblich, und Ottfried gebraucht dafür
auch uuare toun. Wahrnehmen, und gewahr werden sind völlig gleich bedeutend,
obgleich das erstere ursprünglich mehr eigene Thätigkeit als das letztere
bezeichnet, welcher Unterschied aber wegen seiner Feinheit nicht beobachtet
wird. Was die Construction betrifft, so ist der Genitiv nicht einer oder der
andern Bedeutung eigen, sondern in allen Bedeutungen eine Eigenheit der
Oberdeutschen Mundarten, welche denn zuweilen auch noch im Hochdeutschen
beybehalten wird, obgleich hier der Accusativ am gangbarsten ist. Wegen der
Vieldeutigkeit dieses Wortes, und da die eigentliche Bedeutung nicht alllemahl
aus dem Zusammenhange ersehen werden kann, hat man einige Bedeutungen im
Hochdeutschen veralten lassen. Übrigens wird wahrnehmen mit allem Rechte als
ein zusammen gesetztes Wort betrachtet, indem wahr für sich allein nicht mehr
gangbar ist; dagegen gewahr werden richtiger getheilet wird.
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1349-1350]