Verhalten
, [
1243-1244] verb. irreg. act. et recipr. (
S. Halten,) welches nach Maßgebung beyder Theile seiner
Zusammensetzung auch in verschiedenen Bedeutungen üblich ist. 1. Den Zügel
verhalten, bey einigen, dem Pferde den Zügel schießen lassen, wofür doch
verhängen üblicher ist. Mit verhal- tenem Zügel, mit verhängtem. Ver scheint
hier eine destruirende oder auch entfernende Bedeutung zu haben. 2. Zurück
halten, eigentlich durch Halten einsperren, einschließen. (1) In mehr
eigentlichem Verstande, wo es im gesellschaftlichen Leben in sehr vielen Fällen
gebraucht wird, wo ein Ding, oder doch dessen Wirkung zurück gehalten wird. Den
Urin verhalten. Das Verhalten, die Verhaltung des Urins. Den Athem verhalten,
ihn an sich halten. Verhaltene Winde in den Gedärmen, verschlagene. Einem ein
anvertrautes Gut verhalten, edler vorenthalten. Verhaltene Dämpfe in den
Bergen, eingeschlossene. Den Most verhalten, dessen Gährung hindern, aufhalten.
Verhaltener Most, dessen Gährung gehindert worden. Die Sterne verhalten ihren
Schein, Joel 2, 10. Auch habe ich den Regen über euch verhalten, Amos 4, 6.
Darum hat der Himmel über euch den Thau verhalten, Haag 1, 10.
Ich weiß, du strafst mich nicht, Wenn der verhaltne Strom aus
meinen Augen bricht, Weiße. Ein andrer, den ein Strom verhaltner Weisheit
bläht, Dünkt, wenn er dunkel schreibt, sich mehr als Epiktet, Bernh.
(2) In weiterer und figürlicher Bedeutung. (a) Verweilen,
sich aufhalten, eine nur im Niederdeutschen befindliche Bedeutung, wo sie aber
auch anfängt zu veralten. (b) Mit dem Nebenbegriffe der Verbergung, zurück
halten, um zu verbergen, gleichfalls in vielen Fällen des gesellschaftlichen
Lebens. Es hatte sich etwas Feuer in der Asche verhalten. Verhaltene Funken. In
der Jägerey werden die Lockvögel verhalten, wenn man sie im Frühlinge an einem
finstern Orte aufbewahret, damit sie mit Pfeifen und Singen innehalten, und
hernach auf dem Vogelherde desto stärker schlagen. In einem andern Verstande
sagt man daselbst von dem Rothwildbrete, es verhalte sich, wenn es sich in
einem Dickigt verbirgt. Es ist unnöthig, verhalten in dieser Bedeutung von
verhehlen abzuleiten, indem sie ganz natürlich aus der vorigen fließt; indessen
sind hehlen und halten in ihrem Ursprunge nahe verwandt. (c) Verschweigen, um
es einem andern zu verbergen. Einem etwas verhalten. Daß wirs nicht verhalten
sollen ihren Kindern, Ps. 78, 4. Ich will dich etwas fragen, lieber, verhalte
mir nichts, Jer. 38, 14. Ich will euch aber nicht verhalten, daß ich mir oft
habe vorgesetzt, u. s. f. Röm. 1, 13. Es ist in diesem Verstande vorzüglich in
den Kanzelleyen üblich. Wir haben euch solches nicht verhalten mögen. Wo denn
das Mittelwort in Gestalt eines Nebenwortes auch wohl überhaupt für unbekannt,
subjective, gebraucht wird. Es kann denenselben nicht verhalten seyn, was für
Unfug u. s. f. Daher der Gegensatz unverhalten. Es sey dir unverhalten, nicht
verschwiegen. In dieser ganzen zweyten Hauptbedeutung ist so wohl das
Verhalten, als auch in der eigentlichen Bedeutung der Zurückhaltung die
Verhaltung, üblich. 3. Sich verhalten, als ein Reciprocum, den zufälligen
Umständen nach bestimmt werden, und seine zufälligen Veränderungen nach den
äußern Umständen bestimmen; besonders in folgenden nahe verwandten Fällen. (1)
Im weitesten Verstande, den zufälligen Umständen nach bestimmt werden, in
welchem es nur von geschehenen Dingen, und der Art, wie sie geschehen sind,
gebraucht wird. Die Sache verhält sich so. Die Sache verhält sich ganz anders.
Es hat sich so verhalten. Da sich nun dieses so verhielt, Wie verhält sich die
Sache? oder, wie verhält sichs mit der Sache? [
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In dieser Bedeutung ist von dem Zeitworte kein Hauptwort, selbst nicht das
Verhalten, üblich. (2) In Beziehung auf ein anderes ähnliches Ding, in
Vergleichung mit demselben beschaffen seyn, von allen Arten der Beschaffenheit,
besonders aber von der Größe und Intension, da denn dasjenige Ding, mit welchem
das erste gleichsam verglichen wird, das Vorwort zu bekommt. Die Höhe verhält
sich zur Breite, wie zwey zu Eins, d. i. die Höhe ist um so viel größer, als
die Breite, um so viel zwey größer ist, als eins. Ingleichen, wenn die zwey
Dinge von Einer Art sind, auch ohne Vorwort: die Räume verhalten sich, wie die
Geschwindigkeiten, d. i. der eine Raum verhält sich zu dem Raume, wie die eine
Geschwindigkeit zu der andern. Es ist in dieser Bedeutung in der Mathematik am
üblichsten, aus welcher es hernach auch auf andere Gegenstände angewandt
worden. Die Liebe verhält sich zur Freundschaft, wie ein Flammenfeuer zur
sanften Sonnenwärme. Donner und Blitz verhalten sich zu einander, wie die
Wirkung zur Ursache. In dieser Bedeutung ist kein anderes Hauptwort, als das
Verhältniß üblich. (3) Von einem andern Dinge seinen äußern Umständen nach
bestimmt werden, doch nur mit ausdrücklicher Bezeichnung der Art und Weise. Wie
verhält sich das Bley im Feuer? was für Veränderungen erleidet es in demselben?
Antw. Es schmilzt. Glas verhält sich unter dem Hammer ganz anders, als das
Gold. In diesem Verstande ist allenfalls das Verhalten üblich. (4) Im engsten
und moralischen Verstande heißt sich verhalten, seine eigenen Veränderungen in
Rücksicht oder nach Maßgebung der Dinge außer uns bestimmen. Ich weiß nicht,
wie ich mich in oder bey dieser Sache verhalten soll. Wie habe ich mich in
diesem Falle zu verhalten? Verhalte dich ruhig. Sich nach der Vorschrift des
Gesetzes verhalten. Sich sehr ungeberdig verhalten. Sich in seinem Amte
unsträflich verhalten. Es ist in diesem Verstande ein sehr allgemeines
Zeitwort, welches die engern sich betragen, sich aufführen, welche nur von
besondern Arten des Verhaltens üblich sind, mit in sich begreift. Es wird daher
nicht gern in solchen Fällen gebraucht, wo man ein bestimmteres Wort hat. Man
sagt zwar, sich als ein tapferer Mann, sich standhaft im Unglücke verhalten;
aber nicht gern, sich hart, gütig gegen jemanden verhalten, sondern betragen.
Der Gegenstand der Person, auf welche sich die Veränderungen beziehen, bekommt
das Vorwort gegen. Daher das Verhalten,
S. solches so gleich besonders. Anm. Die eigentliche
Bedeutung der Partikel in dieser dritten Hauptbedeutung ist dunkel; allem
Ansehen nach ist sie bloß intensiv, indem das einfache halten in ähnlicher
Bedeutung üblich ist, z. B. sich tapfer halten. Halten aber scheint hier
eigentlich die Bestimmung der äußern Stellung und Geberden zu bezeichnen, so
wie haben, gehaben, und habere, welche in ähnlichen Fällen gebraucht werden.
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