Vergessen
, [
1233-1234] verb. irreg. act. ich
vergesse, du vergissest, zusammen gezogen vergißt, er vergißt; Imperf. ich
vergaß; Conj. vergäße; Mittelw. vergessen; Imperat. vergiß; die Erinnerung
einer gewußten oder gedachten Sache verlieren, sich dieselbe nicht wieder
vorstellen, oder vorstellen können. 1. Eigentlich, wo die Sache im
Hochdeutschen gewöhnlich die vierte Endung bekommt. Es ist vergessen worden.
Ich habe es längst wieder vergessen. Ein Wort, eine Sprache vergessen haben.
Ich will es gewiß nicht vergessen. ich habe vergessen es zu thun, an dich zu
schreiben, es dir zu sagen. Man vergißt eine Person, wenn man nicht an sie
denkt, entweder überhaupt, oder auch in besondern Fällen und Umständen. Über
dem Spielen das Essen vergessen. Es wird mir sehr leicht über ihrem Herzen das
Glück zu vergessen, Gell. Das vergißt sich leicht, wird leicht vergessen. Im
Oberdeutschen wird es sehr häufig mit der zweyten Endung der Sache gebraucht.
Ich vergisse meines Schadens, Stryck. Welche Wortfügung nicht nur in der
Deutschen Bibel häufig angetroffen wird. Gott hat mich lassen vergessen alles
meines Unglücks, 1 Mos. 41, 51. Ich will meiner Klage vergessen, Hiob 9, 27;
und so in hundert Stellen mehr, dagegen auch in einigen die vierte Endung
gebraucht wird. Ich will deine Befehle nimmermehr vergessen, Ps. 119, 93.
Sondern es wird selbige auch in der höhern und dichterischen Schreibart
gebraucht.
Das der Vernunft vergißt, wie aller Sprachgesetze, Us. Der
seiner Wechsel selbst vergaß, Haged. Vergaß mit Lust der Herden, Gell.
Hingegen die Ausdrückung der Sache mit dem Vorworte auf,
welche gleichfalls im Oberdeutschen üblich ist, ist im Hochdeutschen völlig
ungangbar. Sie vergaßen dabey auf das Feuer. Ich habe auf ihn vergessen. In
einigen Gegenden gebraucht man dafür das Vorwort an, an etwas vergessen.
Ungewöhnlich ist der Gebrauch des Mittelwortes der gegenwärtigen Zeit in
folgendem Falle: sie sind allein im Stande, mir (mich) das Andenken dieses
Verlustes vergessend zu machen. Besser, mich ihn vergessen zu machen, im
Infinitiv. Wohl aber wird das Mittelwort der vergangenen Zeit, nach dem
Beyspiele so vieler anderer, thätig gebraucht, da es denn auch als ein eigenes
Beywort üblich ist, wo es denn ohne Ausnahme die zweyte Endung der Sache
erfordert. Seiner Pflicht, seiner Schuldigkeit vergessen seyn. Ein Pflicht
vergessener Mann. Gottes vergessen seyn. Wo es gemeiniglich den Nebenbegriff
des vorsetzlichen Mangels der Erinnerung bey sich führet.
Wer will nun aller Scham dermaßen seyn vergessen, Opitz. Sie
(die Dichtkunst) Lacht alte Thoren weise und Schamvergeßne roth, Dusch.
Da es denn auch wohl mit dem Hauptworte in manchen Fällen
zusammen gezogen wird. Das Mittelwort der gegenwärtigen Zeit, ein
pflichtvergessender, gottesvergessender Mensch, ist hier nicht so
nachdrücklich, weil es nur auf die gegenwärtige Zeit, auf einen einzelnen Fall,
gehet, vergessen aber die ganze Fertigkeit ausdruckt. In noch weiterm Verstande
nennet man jemanden, welcher leicht etwas vergißt, im gemeinen Leben einen
vergessenen Menschen, wofür doch vergeßlich üblicher ist. (
S. auch Vergessenheit.) Daß vergessen übrigens auch im
passiven Verstande wie eigentlich alle Mittelwörter der vergangenen Zeit,
üblich ist, verstehet sich von selbst. Eine vergeßne Sache, die man vergessen
hat. 2. In einigen engern, theils figürlichen Bedeutungen. (1) Elliptisch sagt
man, etwas vergessen, es bey jemanden vergessen, es mit zu nehmen, abzuhohlen
u. s. f. vergessen. Man vergißt jemanden, wenn man dasjenige vergißt, was man
in Ansehung seiner thun wollte. (2) Eine Beleidigung vergessen, den Unwillen
darüber und gegen den Beleidiger fahren lassen. Es soll vergeben und vergessen
seyn. Ich will dir es mein Tage nicht vergessen. (3) Sich vergessen, aus Mangel
des Bewußtseyns seiner selbst und seines Verhältnisses gegen andere, einen
Fehler begehen, wie sich vergehen, aus Übereilung. Ich habe mich schon wieder
vergessen. Ein Gott vergißt sich selbst im Zorn, Weiße. Wer wollte sich so
vergessen! Daher das Vergessen, welches doch seltener vorkommt. Noch
ungewöhnlicher ist das Hauptwort die Vergessung. Anm. Bey dem Kero erkezzan,
bey dem Ottfried irgezzan, bey dem Notker irgezen, ergezen, agezen, wo auch
Ageze, das Vergessen ist, bey dem Willeram aber schon vergezzen, im Nieders.
vergeten, im Angelsächs. forgytan, im Engl. forget, im Schwed. förgäta. Das
Stammwort ist das Schwed. gäta, Isländ. gata, Angels. gytan, sich erinnern,
ingleichen denken, eingedenk seyn, wovon noch die Niedersachsen ihr gissen,
muthmaßen, haben, und womit auch unser Geist verwandt ist, (
S. dasselbe in der Anmerk.) Im Angels. ist daher
ondgytan, verstehen, erkennen. Ver hat also hier eine aufhebende oder
destruirende Bedeutung. Ehedem wurde es auch im factitiven Verstande gebraucht,
für vergessen machen. Diu blindi irgezzet in Gotes, die Blindheit macht, daß er
Gottes vergißt.
S. auch Vergiß. [
1235-1236]