Reißen
, [
1067-1068] verb. irreg. ich reiße, du
reißest, er reißet oder reißt; Imperf. ich riß; Mittelw. gerissen; Imperf.
reiß. Ein Wort, welches eine unmittelbare Nachahmung eines gewissen Schalles
ist, und daher von so verschiedenen Dingen gebraucht wird, welche aber
insgesammt von einem und eben demselben oder doch sehr ähnlichen Schalle
begleitet werden; eine Anmerkung, welche man nothwendig voraus setzen muß, wenn
man nicht in Versuchung gerathen will, verschiedene Bedeutungen dieses Wortes
als Figuren von einander anzusehen, da sie doch nur neben einander geordnet,
nicht aber einander untergeordnet sind. Der Form nach ist es das Intensivum von
reisen, wie schon aus dem verdoppelten Mitlauter erhellet, und da dieses
ursprünglich in einem so weiten Umfange der Bedeutung und unter andern auch von
einer Bewegung nach allen Richtungen gebraucht wurde, so gilt dieses und zwar
noch mehr, auch von unserm Reißen. Es ist in doppelter Gestalt üblich. I. Als
ein Neutrum, welches das Hülfswort seyn erfordert. 1. Mit einem diesem Worte
eigenthümlichen Schalle plötzlich getrennet werden, welcher eigenthümliche
Schall das Reißen von dem Brechen, Springen, Bersten, Platzen u. s. f.
unterscheidet. Man gebraucht es besonders von solchen Körpern, deren zähe
Theile durch eine allzu heftige Ausdehnung plötzlich getrennet werden. Ein
Faden, ein Strick, ein Band, ein Draht u. s. f. reißen, wenn sie stärker
ausgedehnet werden, als es der Zusammenhang ihrer Theile verstattet. Wenn alle
Stricke reißen, figürlich, wenn alle übrigen Hülfsmittel vergebens sind, im
höchsten Nothfalle. Der Zeug reißt, wenn der Zusammenhang seiner Theile
plötzlich getrennet wird. In engerer Bedeutung wird es auch zuweilen von
festern Körpern, für das Neutrum spalten gebraucht. Die Felsen zerrissen,
Matth. 27, 25. Der Erdboden reißt vor Hitze. Das Eis reißt. Die Tenne ist
gerissen.
S. Riß und das folgende Activum. 2. Sich mit schneller
Gewalt und dem diesem Zeitworte eigenthümlichen Laute fortbewegen, als das
Intensivum von reisen, und als ein naher Verwandter von brausen, rauschen,
rasen u. s. f. Die Helden rissen sich ins Lager, 2 Sam. 23, 16. Ein reißender
Strom, der sich mit schneller Gewalt fortbewegt, wo mehr auf die
Geschwindigkeit seines Laufes, als auf die thätige Wirkung des mit sich
Reißens, gesehen wird. In vielen Oberdeutschen Gegenden wird reißend und das im
Hochdeutschen ganz fremde reißicht, für sehr schnell, gebraucht. Reißend oder
reißicht laufen. Dahin gehöret auch die Hochdeutsche R. A. eine Waare gehet
reißend ab, d. i. sehr schnell, welche alle Sprachlehrer für unrichtig
erklären, weil die Waare nicht reißen könne; ein Beweiß, daß ihnen dieser
neutrale Gebrauch des Zeitwortes völlig unbekannt gewesen. Die
Zusammensetzungen ausreißen, in schneller Eile fliehen, und einreißen, haben
diese Bedeutung der schnellen Bewegung auch noch. Das Reciprocum sich reißen,
sich schnell fortbewegen, gehöret eigentlich zu der übereinstimmigen Bedeutung
des folgenden Activi. 3. In weiterer Bedeutung, wüthen, toben, als ein
Intensivum von rasen, so fern es ehedem auch reisen gelautet haben mag. 1)
Eigentlich, wo es doch nur noch in einigen Fällen üblich ist. Die Plage riß
unter die Israeliten, Ps. 106, 29. Der Wind reißt, tobt, brauset. 2) Figürlich,
wo es besonders von einem heftigen mit Ziehen verbundenen Schmerzen gebraucht
wird; eine Bedeutung, welche völlig thätig ist, und daher auch haben, bekommt.
Ein reißender Schmerz. Das Reißen im Leibe, das Reißen in den Gliedern haben.
Es reißt, oder es reißt mich in den Gedärmen, ich fühle einen tobenden Schmerz
in denselben. Das Kind bekam ein Reißen. Die reißende Gicht. II. Als ein
Activum, wo es wiederum in mehrern verschiedenen Bedeutungen vorkommt, welche
aber insgesammt mit einerley oder doch ähnlichem Laute begleitet sind. 1. Mit
schneller Gewalt trennen. 1) Durch eine plötzliche stärkere Ausdehnung, als der
Zusammenhang der Theile es verstattet. Einen Faden, einen Brief, ein Papier,
ein Stück Zeuges entzwey reißen. In Stücke reißen. Besonders in den
Zusammensetzungen abreißen, durchreißen, zerreißen. Sich an einem Nagel reißen,
sich die Haut an demselben verwunden; zu welcher Bedeutung der gewaltsamen
Trennung in die Länge auch das neue Intensivum ritzen gehöret. Federn reißen,
oder schleißen, die haarigen Theile von den Kielen reißen; gerissene Federn.
Einen Missethäter mit glühenden Zangen reißen, eigentlich ihm mit glühenden
Zangen Stücke Fleisch von dem Leibe reißen. 2) Durch Spalten; eine nur in
einigen Fällen übliche Bedeutung. Im Forstwesen und bey verschiedenen
Holzarbeitern ist reißen so viel als spalten. Latten reißen, d. i. spalten;
gerissene Latten, im Gegensatze der geschnittenen. Holz reißen, spalten. 3)
Durch Schneiden, Graben, Hauen, Pflügen u. s. f. (a) Eigentlich, wo es auch nur
noch in einigen Fällen gebraucht wird. Einen Ochsen, einen Hengsten reißen, ihn
castriren, für schneiden. Ein gerissenes Füllen, ein castrirtes, geschnittenes.
Einen Karpfen reißen, in den Küchen, ihn der Länge nach aufschneiden. Den Wein
reißen, in Franken, in dritten Jahre alles über der Erde befindliche Holz an
den jungen Weinstöcken abschneiden. Einen Baum reißen oder lachen, im
Forstwesen, das Holz an den Harzbäumen aufhauen, damit das Harz heraus fließe.
Ihr sollt kein Mahl an eurem Leibe reißen, 3 Mos. 19, 28, durch Ritzen. Einen
Acker reißen, aufreißen oder umreißen, einen wüst gelegenen Boden zum ersten
Mahle pflügen, und ihn dadurch zum Acker machen. Im Wend. ist ryju, ryjicz,
graben und riesu schneiden, stechen, und im Bergbaue kommen ressen und röschen
noch in ähnlichem Verstande vor, (
S. diese Wörter.) (b) Figürlich, wo dieses Wort ehedem
im Deutschen, noch mehr aber in den verwandten Sprachen, für schreiben und
mahlen gebraucht wurde, und zum Theil noch gebraucht wird; eine Bedeutung,
welche aus der ältesten Art des Schreibens und Mahlens auf harte Körper
erkläret werden muß, welche mehr ein eigentliches Schneiden, Graben oder
Kratzen war. Daher ist im Angels. writan, und noch im heutigen Englischen to
write, schreiben, Isländ. und Schwed. rita. In erdu mit themo fingar reiz,
Ottfr. er schrieb mit dem Finger in die Erde. In der Monseeischen Glosse ist
Reiza eine Zeile, Reihe, und im Lettischen bedeutet raszu gleichfalls
schreiben. Das Schwedische rita bedeutet auch mahlen, und unser schreiben und
mahlen gründen sich auf ähnliche Bewegungen. Jetzt gebraucht man das Wort
reißen nur noch in engerer Bedeutung von der Verfertigung solcher Figuren,
welche man nur nach den Hauptzügen vorstellet, als ziemlich gleich bedeutend
mit zeichnen. Reißen lernen. Eine Blume reißen.
S. auch Riß, ingleichen Abreißen und Aufreißen, Reißbley,
Reißbret, Reißschiene. 2. Mit schneller Gewalt von seinem Orte bewegen.
Jemanden etwas aus der Hand, das Kind aus den Armen, den
[
1069-1070] Hut vom Kopfe, den Rock von dem Leibe reißen.
Sich die Haare aus dem Kopfe reißen. Der Wind riß mir den Hut von dem Kopfe, er
reißt die Ziegel von den Dächern. Einen Brand aus dem Feuer reißen. Der Wolf
reißt das Schaf nieder. Reißende Thiere, ein Nahme der großen vierfüßigen
Raubthiere, weil sie ihren Raub zur Erde reißen; doch kann hier auch die vorige
erste Bedeutung Statt finden, so daß reißen hier das Stammwort von dem mit dem
Blaselaut verstärkten fressen seyn würde. Jemanden niederreißen, zu Boden
reißen, ihn mit schneller Gewalt auf die Erde zeihen. Sich um etwas reißen,
raufen. Es wird sich niemand darum reißen, eifrig darum bewerben. Etwas zu sich
reißen, an sich reißen, auch figürlich, es mit unbefugter Gewalt in seinen
Besitz bringen. Jemand, aus seiner Noth reißen, ihn plötzlich von seiner Noth
befreyen. Von seiner Leidenschaft schnell dahin gerissen werden.
Mich reiße nie, was mir gefällt, Unprüfend dahin, Weiße.
Dahin denn auch das Reciprocum sich reißen gehöret, sich mit
schneller Gewalt fortbewegen. Sich aus jemandes Armen reißen. Cleanth muß sich
überfüllen, um sich aus seiner Unempfindlichkeit zu reißen, Gell.
Durch das Gesträuch reißt sich das Roß Mit starkem Ungestüm,
Weiße. Wie ein Blitz sich vom hohen Olymp in die Felder hinab reißt, So riß
Cyper sich auch unter dem Ofen hervor, Zachar.
S. auch Abreißen, Entreißen, Fortreißen u. s. f. 3. Mit
lauter Stimme sagen, sprechen; eine nur noch mit den beyden Hauptwörtern Possen
und Zoten übliche Bedeutung. Possen reißen, Zoten reißen, vorbringen. In
einigen Oberdeutschen Gegenden sagt man auch Reime reißen, sie aus dem
Stegereife hersagen. Einem einen Possen reißen, ihm einen Possen spielen. Es
ist auch hier eine unmittelbare Nachahmung des mit der Stimme verbundenen
Schalles, so wie sprechen auf ähnliche Art durch Vorsetzung des Zischlautes aus
brechen gebildet ist. Das Lat. ridere, lachen Risus, das Lachen, das
Oberdeutsche reiten, rechnen, unser Reden, preisen u. a. m. sind gleichfalls
damit verwandt. Daher das Reißen anstatt des ungewöhnlichen Reißung. Siehe auch
Riß. Anm. Im Nieders. in den meisten der jetzt gedachten Bedeutungen mit dem
verwandten t riten, im Angels. hreddan, im Griech. -
hier nichtlateinischer
Text, siehe Image - , ziehen, reißen, -
hier nichtlateinischer Text,
siehe Image - , -
hier nichtlateinischer Text, siehe Image - ,
welche alle Intensiva von -
hier nichtlateinischer Text, siehe
Image - , ziehen, und im Latein. mit vorgesetztem t trahere, Nieders.
trecken, sind. Selbst in den morgenländischen Sprachen sind die Spuren von
diesem Worte sehr häufig. Im Chald. ist resas, und im Arab. raetz, ratza,
reißen, im Neutro; im Hebr. ist Resisim, im Plural, große Risse, im Arab. Ress
eine zerrissene Sache, im Pers. Ris eine Wunde, und Rize zermalmet, (
S. Reiß, Graus und Gries.) Mit dem Vorlaute b ist
-
hier nichtlateinischer Text, siehe Image - im Hebr. er hat
zerrissen, und im Deutschen sagte man ehedem bresten für bersten, brechen; mit
dem Vorlaute g ist im Hebr. -
hier nichtlateinischer Text, siehe
Image - hauen, und unsere Bergleute sagen noch greißen für spalten.
Anderer Verwandtschaften zu geschweigen. Zu Anfange dieses Wortes ist schon
gesagt worden, daß es eine unmittelbare Nachahmung des Schalles ist. Diesen
Schall pflegt man, so fern er mit einer plötzlichen Trennung des Zusammenhanges
verbunden ist, im gemeinen Leben auch durch die Interjectionen ritsch und
ratsch, und so fern bloß eine schnelle Geschwindigkeit ausgedruckt werden soll,
durch risch und rasch auszudrucken. Reißen, Nieders. riten, ist das Intensiva
von reisen, Nieders. riden, so wie von dem erstern ritzen ein neues Intensivum
ist, [
1069-1070] welches zunächst von dem Niederdeutschen
riten, reißen, abstammet. Von reiten, dem reisen anderer Mundarten, heißt das
Intensivum reitzen. [
1069-1070]