Müssen
, [
329-330] verb. reg. neutr. welches das
Hülfswort haben bekommt, und in einigen Fällen sein u in ein ü verwandelt,
Präs. Ich muß, du mußt, er muß, wir müssen, ihr müsset oder müßt, sie müssen;
Conj. ich müsse u. s. f. Imperf. ich mußte; Conj. ich müßte; Mittelw. gemußt.
Der Imperativ muß ist so wenig üblich, als das Mittelwort der gegenwärtigen
Zeit, ein müssender. 1. Zu einer Handlung oder zu einem Zustande gezwungen seyn
oder werden, so wohl von Personen als Sachen. 1) Eigentlich. Das Eisen muß
nothwendig im Wasser untersinken. Ich habe es ihm befohlen, er muß es thun.
Am besten gern gethan, denn wer nicht will, der muß, Opitz.
Ich muß jetzt gehen. Ihr Herz hat eine Wunde, welche
ausgebeitzet werden muß. Um dieß Vergnügen muß mich ein Prinz beneiden, Gell.
Sie hat so viel edles an sich, daß man sie verehren muß. Ich muß nun schon Wort
halten. Sie sollen mir Zeit genug dafür büßen müssen, Weiße. Dieses Zeitwort
hat in allen seinen Bedeutungen alle Mahl den Infinitiv eines andern Zeitwortes
bey sich. Allein wenn derselbe eine Bewegung nach oder zu einem Orte bezeichnet
und ein Vor- oder Nebenwort bey sich hat, so wird er auch oft ausgelassen. Ich
muß fort. Es muß hinein. Die Sache muß wieder herbey. Um sechs Uhr muß ich in
die Kirche. Er mußte nach Hause. Er muß daran. Außer diesem Falle kann der
Infinitiv auch zuweilen wegbleiben, wenn er schon kurz vorher da gewesen, oder
leicht zu ergänzen ist. Müssen sie denn gehen? - - Ja, ich muß. Er wollte nicht
gern, aber er mußte wohl. 2) Figürlich, in einigen engern Bedeutungen. (a) Oft
wird dieses Zeitwort in dringenden Bitten gebraucht, wo es aber eine gewisse
Vertraulichkeit voraus setzt. Eines müssen sie mir noch versprechen. Sie müssen
mir aber meine Bitte auch nicht abschlagen. Sie müssen aber auch kommen. (b)
Ingleichen in dringenden Ermahnungen und Belehrungen, im belehrenden Tone.
Diese Empfindsamkeit eurer Herzen müßt ihr zu einem lebendigen Gefühle alles
dessen was gut, recht, wahr, löblich und billig ist, heiligen, Eram. Dieser
große Gedanke muß deine Seele unter ihrem Grame mächtig aufrichten, Sonnenf.
Ich muß wissen, was an ihm ist. Sie müssen ihn fragen, wenn sie es wissen
wollen. So auch mit der Verneinung. Mich müssen sie nicht fragen. Das müssen
sie nicht von mir, sondern von ihm fordern. (c) Oft wird auch im gebietherisch
belehrenden Tone gebraucht. Wenn sie anderer Meinung sind, so müssen sie
wissen, das sie jung, und keine Erfahrung haben, Gell. (d) Ich muß ihnen sagen,
ich muß sie fragen, u. s. f. sind in der vertraulichen Sprechart übliche
Formeln, ein dringendes Anliegen zu begleiten, oft aber auch nur einer Sache
ein wichtiges Ansehen zu geben. Ich muß dich doch noch etwas fragen, Gell. Ich
muß ihnen sagen, daß uns vielleicht ein kleines Glück bevor stehet, ebend. Und
ich muß euch doch sagen, daß mich Peter manchmahl dauert, Weiße. Ganz bin ich
noch nicht fertig, muß ich ihnen sagen, Less. 2. Nothwendig seyn, im weitesten
Umfange dieses Wortes, so wohl von einer physischen als moralischen
Nothwendigkeit, gleichfalls mit den Infinitiv eines andern Zeitwortes. 1)
Eigentlich. Man muß arbeiten, wenn man zu etwas kommen will. Du mußt Geduld
haben. Es müssen einmahl verschiedene Stände in der Welt seyn. Wenn du einmahl
alles kannst, was die vornehmen Weiber können müssen, Weiße. Jeder Mensch ist
frey, und nie muß er es mehr seyn, als wenn es die Wahl seines Glückes
betrifft.
Willst du der Frucht in Ruh genießen, So muß es nicht der
ganze Weinberg wissen, Gell.
Es muß ja nicht seyn. Müßte der nicht mein Freund seyn, der
mir widersprechen wollte? Ein Frauenzimmer muß nichts so inniglich zu Herzen
nehmen, als Versehen gegen das männliche Geschlecht, Hermes. Man müßte keine
Empfindung haben, wenn man das nicht fühlen wollte. Sie müßte ihren Werth nicht
kennen, wenn sie dieses zu thun im Stande wäre, Gell. 2) Figürlich. (a) Mit dem
Nebenbegriffe einer eingebildeten Nothwendigkeit. Er muß alles wissen, hält für
nothwendig alles zu wissen, will alles wissen. Für ihn ist alles, zu seinem
Vergnügen müssen alle Geschöpfe da seyn, Dusch.
Kein Blätterchen fuhr auf, die Musche mußt' es decken, Zachar.
Wo es zuweilen Umwillen verräth. Müssen sie mich denn
nothwendig stören? Daß sie mich doch immer unterbrechen müssen! (b) Sehr oft
wird dieses Zeitwort gebraucht, eine Begebenheit zu berichten, welche man einem
Ungefähr, gleichsam einem nothwendigen Schicksale zuschreibt. Es mußte sich
eben zutragen, daß er mir in den Wurf kam. Zum Glück fügte sichs, daß diesen
Abend eine Mondfinsterniß einfallen mußte. Alle Tage hat sich ein Hinderniß
finden müssen, Gell. Ingleichen, einen Umwillen zu begleiten. Daß er gleich
kommen muß! (c) Ferner eine Versicherung einer Sache, von welcher man fest
überzeugt ist, auszudrucken. Das weiß ich nicht, das müssen sie wissen. Sie
müssen ja wissen, daß das ein bloßer Zufall is. Erst zwey Uhr? es muß weiter
seyn. Sie müssen mir die beste Beschreibung von ihr machen können, Gell. Wie
wenig müssen sie mich kennen! ebend.
Lucinde muß es besser wissen, Wie lange sie dich lieben wird,
ebend.
Auch im Conjunctiv. Welche Wollust müßte es seyn, ein Herz
wie das ihrige zu belohnen! Gell. Denke was das für ein Himmel von
Glückseligkeit seyn müßte, wenn wir unsere Liebe vor den Augen der Welt feyern
könnten! Weiße. [
331-332] 3. Oft dienet es auch, eine
Vermuthung aus Gründen zu begleiten, da es denn eine Fortsetzung der vorigen
Bedeutung ist, und stärker vermuthet, als mögen. Er muß wohl sehr krank seyn.
Aber die gute Frau muß ja den ganzen Tag bethen, Gell.
Das müssen wohl Maschinen seyn, Die die Vernunft nicht kennen
müssen, ebend.
Sie muß ja wohl nahe an sechzig Jahre seyn, ebend. Du mußt
dich geirret haben. Der Vater muß aber doch seine Ursachen haben, Weiße. Ihr
müßt euch alle beredet haben, mir zu widersprechen, Gell. 4. Ingleichen die
Ungewißheit oder Unwissenheit zu bezeichnen, besonders in Fragen, da es denn
für mögen stehet. Wie viel muß es wohl kosten? Ein jeder fragte, wer dieser
Herr seyn müßte? Was muß der wollen? Wer muß uns diesen Streich gespielt haben?
Ich weiß nicht, wer der seyn muß. Was muß das bedeuten? 5. Wie auch, einen
bloßen möglichen Fall anzudeuten, wo es im Conjunctive stehet. Das wird nicht
geschehen, ich müßte denn gezwungen werden. Wir werden ihn noch heute sprechen,
er müßte denn nicht kommen. Er müßte sie etwa zur Erbinn eingesetzt haben. 6.
Endlich druckt es auch einen Wunsch aus, und zwar einen stärkern Wunsch, als
mögen; da es denn gleichfalls im Conjunctive stehet, und am häufigsten
unpersönlich gebraucht wird. Es müsse ihm nicht gelingen. Es müsse dir zum
Besten dienen. Anm. 1. Sollen und müssen sind leicht zu unterscheiden. Das
letztere ist allgemeiner und druckt, wie schon Stosch angemerket hat, eine
Nothwendigkeit aus, welche von dem Wesen der Sache oder von den Umständen
abhängt; das erstere begreift nur einen einzelnen Fall, indem es sich alle Mahl
auf ein Geboth oder auf einen Befehl beziehet. Anm. 2. Müssen hat, wie schon
oben bemerket worden, alle Mahl den Infinitiv eines andern Zeitwortes nach
sich. Dieß hat vermuthlich die meisten Sprachlehrer verführet, es für ein
Hülfswort auszugeben, da doch zu einem Hülfsworte noch mehr als das erfordert
wird. Es tritt daher, so wie die übrigen Zeitwörter, welche einen bloßen
Infinitiv nach sich haben, selbst in den Infinitiv, wenn es in einer zusammen
gesetzten Zeit im Mittelworte stehen sollte. Ich habe es wohl thun müssen;
nicht gemußt. Dagegen es der ordentlichen Regel folgt, wenn es allein stehet;
er hat fort gemußt; wir haben wohl gemußt. Anm. 3. Es lautet bey dem Ottfried
und seinen Zeitgenossen muozzen, muazen, im Nieders. möten, im Holländ. moeten,
im Engl. I must, ich muß, im Schwed. motta, im Pohln. mussze, im Böhm. musy.
Ehedem bedeutete es auch können. Daz uuir dih anasehen muozzen, daß wir dich
ansehen können, Willeram. Bey dem Ottfried und Notker kommt es in dieser
Bedeutung mehrmahls vor, und im Angels. ist ic mot gleichfalls ich kann, und
bey den ältern Schweden mada, und im Finnländ. manda, können. Auch für dürfen
war es ehedem nicht ungewöhnlich, und in den Straßburgischen Stadtrechte kommt
daher auch muislich für erlaubt vor. Da es nun auch noch jetzt in einigen
Fällen für mögen gebraucht wird, so erhellet daraus dessen Verwandtschaft mit
diesem Zeitworte. [
331-332]