1. Lesen
1. Lesen,
[
2031-2032] verb. irreg. act. ich lese,
(Oberd. ich lies,) du liesest, er lieset, wir lesen u. s. f. Imperf. ich las;
Mittelw. gelesen; Imperat. lies, (Oberd. lese). Es bedeutet überhaupt, von
mehrern Dingen Einer Art eines nach dem andern wegnehmen, oder ausheben; wo es
doch nur noch in einigen Fällen üblich ist. Auf dem Acker Ähren lesen, zusammen
lesen, auflesen. Holz lesen, auflesen. Wein lesen, die reifen Weintrauben nach
einander abbrechen, (
S. Weinlese.) Kann man auch Trauben lesen von den
Dornen, oder Feigen von den Disteln? Matth. 7, 16. Die Steine von dem Acker
lesen. Das Unreine aus den Erbsen, Linsen u. s. f. lesen. In vielen Fällen ist
es im Hochdeutschen ungewöhnlich geworden. Da ging einer aufs Feld, daß er
Kraut läse, 2 Kön. 4, 39, suchte, hohlte. Erdbeeren, Heidelbeeren lesen, im
Oberd. wofür man in Hochdeutschen lieber pflücken sagt. So auch,
So lise ich bluomen do rife nu liet, Walth. von der
Vogelweide,
für pflücken. Ingleichen figürlich, auf solche Art reinigen,
leer machen. Den Weinberg lesen, die Trauben in demselben, Wenn du deinen
Weinberg gelesen hast, 5 Mos. 24, 21. Den Acker lesen, die Steine von demselben
lesen. Den Salat lesen, die verdorbenen Blätter aufsuchen und wegnehmen.
Erbsen, Linsen, Reiß u. s. f. lesen, das Unreine einzeln hinweg nehmen. Wolle
lesen. Im Nieders. verlesen. Bey den Webern werden die Fäden gelesen, wenn die
Fäden des Aufzuges aus einander gelesen und in Ordnung gebracht werden. Das
Hauptwort die Lesung wird nur in einigen Zusammensetzungen gebraucht, in
welchen lesen zugleich von einem weitern Umfange der Bedeutung ist, als jetzt
das einfache Zeitwort hat. Anm. Schon bey dem Kero lesan, im Nieders. lesen, im
Engl. to lease, im Schwed. läsa, im Angels. lesan, im Lat. legere, colligere,
im Griech. -
hier nichtlateinischer Text, siehe Image - . Merkwürdig
ist es allerdings, daß dieses Zeitwort mit dem folgenden nicht nur in der
Conjugation überein kommt, sondern auch in allen Europäischen Sprachen mit
demselben gleichlautend ist. Indessen ist doch bey dem sehr einfachen Gange der
menschlichen Begriffe, besonders in denjenigen Zeiten, in welche der Ursprung
der Wörter fällt, kein scheinbarer Grund vorhanden, sie beyde von Einem Stamme
herzuleiten. Denn daß einige das folgende lesen so erklären, als wenn es
eigentlich die Buchstaben, Sylben und Wörter zusammen lesen oder sammeln
bedeute, ist mehr ein witziger Einfall, als eine der Analogie der Sprache
gemäße Ableitung. Vielleicht stammet das gegenwärtige Zeitwort von los, lösen
ab, (in einigen Oberdeutschen Gegenden wird es wirklich lösen gesprochen;)
alsdann wäre dessen Verwandtschaft mit verlieren, welches im Nieders. ehedem
nur lesen lautete, Engl. to leese, lose, loose, Angels. losgan, leosan, bey dem
Ulphilas liusan, sehr leicht begreiflich.
S. Verlieren. [
2033-2034]