Die Kraft
Die Kraft,
[
1737-1738] plur. die Kräfte. 1. In
engerer und eigentlicher Bedeutung, der Grund der Bewegung, was eine Bewegung
hervor bringen oder hindern kann, und selbige wirklich hervor zu bringen oder
zu hindern bemühet ist. 1) Im eigentlichsten Verstande, von lebendigen
Geschöpfen. Viele Kraft in seinen Armen haben. Er hat keine Kraft mehr zu
sprechen. Dazu reichet meine Kraft nicht hin. Da die bewegende Kraft in jedem
Körper nur Eine ist, so hat es in dieser Bedeutung eigentlich auch keinen
Plural. Allein, da es verschiedene Arten der Bewegungen gibt, so legt man ihnen
im gemeinen Leben auch häufig einen eben so sehr verschiedenen Grund bey, und
daher kommt es, daß es in dieser und der folgenden Bedeutung häufig im Plural
gebraucht wird, den Grund der natürlichen Bewegungen in den thierischen und
besonders menschlichen Körpern zu bezeichnen. Aus allen Kräften arbeiten,
laufen, schreien u. s. f. Alle seine Kräfte anstrengen, anwenden. Speisen,
welche Kräfte geben. Seine Kräfte nehmen ab. Er ist noch bey ziemlichen
Kräften. Die Kräfte verlieren, an Kräften abnehmen. An Kräften zunehmen. Wieder
zu Kräften kommen, auch figürlich, wieder zeitlicher Vermögen erlangen. Über
seine Kräfte arbeiten. Seine Kräfte versuchen. Das ist über meine Kräfte, auch
in weiterer Bedeutung, über mein Vermögen, über die Kräfte meines Geistes.
Seine Kräfte noch beysammen haben. Bey einem leblosen Körper findet der Plural
nur alsdann Statt, wenn die Kraft in mehrern Körpern gedacht wird. Die todte
Kraft, in der Mechanik, welche keine wirkliche Bewegung hervor bringet, welche
in Ruhe ist, oder an der die Bemühung zur Bewegung nicht merklich ist. Die
lebendige Kraft, deren Bemühung zur Bewegung merklich ist. Die ausdehnende
Kraft eines Körpers, die magnetische Kraft, die widerstehende Kraft, Vis
inertiae u. s. f. Das Schießpulver hat, wenn es sich entzündet, eine
unglaubliche Kraft. Zwey Kräfte, welche einander im Gleichgewichte halten,
heißen todte Kräfte. In engerer Bedeutung ist in der Mechanik die Kraft die
bewegende Kraft; zum Unterschiede von der Last, d. i. der entgegen gesetzten
Kraft, welche die Bewegung hindert. 2) * Figürlich wurde dieses Wort ehedem von
einem Kriegsheere gebraucht, wofür jetzt Macht üblich ist. In welcher Bedeutung
Chraft schon bey dem Stryker für Kriegsheere vorkommt.
So will ich euch mit ganzer Kraft Und dem andern volck drucken
nach, Theuerd. Kap. 81.
Der Ausdruck mit Heeres Kraft, d. i. mit einem Zahlreichen
Kriegsheere, kommt noch in den Schriften des vorigen Jahrhundertes häufig vor,
ist aber gleichfalls veraltet, so wie in der biblischen Bedeutung, wo es einige
Mahl für mächtige, mit großer Kraft begabte Geschöpfe gebraucht wird. 2. In
weiterer Bedeutung, der Grund gewisser Veränderungen in einem Dinge; wozu also
nicht nur das Vermögen und die Fähigkeit gehöret, solche Veränderungen zu
verursachen, sondern auch das Bestreben darnach. 1) Überhaupt. Gott erhält die
Welt durch seine unendliche Kraft. Die Kräfte der Natur haben noch nicht
abgenommen. Die Seele hat eine Kraft zu denken, zu wollen, sich zu erinnern u.
s. f. Die obern Kräfte der Seele, die untern Kräfte. Die Einbildungskraft,
Erkenntnißkraft, Erinnerungskraft, Bewegungskraft u. s. f. 2) Besonders, wo es
so viele Arten von Kräften gibt, als es Veränderungen gibt. Im gemeinen Leben
hat eine Speise Kraft oder Kräfte, wenn sie viele nährende Theile hat. In der
Arzeneykunde hat ein Ding eine Kraft oder Kräfte, wenn es ein mit Bestreben
verbundenes Vermögen besitzt, Veränderungen, und in engerer Bedeutung heilsame
Veränderungen, in dem thierischen Körper hervor zu bringen. Die Heilkräfte
einer Arzeney. In der Moral legt man dem Worte Gottes, einer Lehre, einem
Vortrage, Kraft bey, wenn selbige ein bestrebendes Vermögen haben, auf den
Willen zu wirken, Veränderungen in dem menschlichen Geiste hervor zu bringen.
Bey den Rechtsgelehrten geht ein Unheil in seine Kraft, wenn es vollzogen
werden kann und muß, (
S. Rechtskräftig.) Und so in andern Fällen mehr. Dahin
gehöret auch der adverbische Gebrauch dieses Wortes, wo es mit der zweyten
Endung für vermöge stehet. Kraft meines Versprechens; Kraft der Gesetze, Kraft
des mir aufgetragenen Amtes, nicht, wie es wohl zuweilen heißt, Kraft meines
tragenden Amtes. Im Oberd. ist dafür in Kraft üblich.
[
1739-1740] 3. In noch weiterer Bedeutung wird es häufig
von dem bloßen Vermögen, eine Bewegung, und in weiterer Bedeutung, eine
Veränderung hervor zu bringen, gebraucht, wenn gleich solches mit keiner
Bemühung verbunden ist, dieses Vermögen zu äußern. Daher sagt man, die Kraft
der Seele, die Kräfte einer Arzeney u. s. f. auch wenn sie im Stande der Ruhe
ohne ein wirksames Bestreben gedacht werden. Anm. Bey dem Kero Chraft, der es
aber auch für Tugend gebraucht, doch vermuthlich nach einer buchstäblichen
Übersetzung des Lat. Virtus; bey dem Ottfried Kraft, bey dem Notker und
Willeram Chraft, im Niederdeutschen, nach der nicht ungewöhnlichen
Verwechselung des f und ch, Kracht, wie achter für after, Lachter für Klafter,
bey den Schwäbischen Dichtern gleichfalls Kraht, im Dän. und Schwed. Kraft. Da
alle abstracte Bedeutungen in allen Sprachen Figuren sinnlicher Bedeutungen
sind, so ist es sehr wahrscheinlich, daß dieses Wort von greifen, mit den
Händen fassen, abstammet, so wie das Niederdeutsche Kracht zunächst von
kriegen, in eben dieser Bedeutung, herkommt. Kraft würde also eigentlich den
Griff, oder einen derben starken Griff bezeichnen, welches mit dessen ersten
Bedeutung der körperlichen Stärke sehr gut überein kommt, und zugleich den
Nebenbegriff der Bemühung, des Bestrebens erläutert. Es finden sich auch
Spuren, daß Kraft wirklich in dieser Bedeutung gebraucht worden; wenigstens
kommt dreykräftig in ältern Schriften mehrmahls für dreyzackig vor. Im Wallis.
bedeutet cryf stark, im Isländ. kröfr robust, im Angels. Croeft und im Engl.
Craft die Kunst, im Schwed. kraftig, stark. Das Griech. -
hier
nichtlateinischer Text, siehe Image - , die Kraft, Macht, und das Lat.
crudus, für stark, kräftig, cruda Deo viridisque senecta, Virgil, gehören
gleichfalls dahin, und kommen dem Niederdeutschen Kracht nahe, wo nur der
Hauchlaut eingeschoben worden.
S. 2. Kriegen. [
1739-1740]